A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W X Y Z
     
 
     
 

Eine dünne Glaswand umgab ihn

 
     
 
Zu Milena Jesenska, die ihn liebte, äußerte Franz Kafka, daß "die schmutzige Sexualität" die "ideale Liebe zu einer Frau schmälert". Die Verbindung löste sich auf. Kafka war wieder einmal allein. Ein Sprichwort sagt: "An den Scheidewegen des Lebens steht kein Wegweiser." Er wäre Kafka auch nicht hilfreich gewesen, denn in irreparabler Daseinsangst, die seine Bindungsscheu einschloß, hätte er ein Wegzeichen unbeachtet gelassen. Geboren wurde der wortsensible Schreibkünstler am 3. Juli 1883 als ältestes von sieben Kindern einer angesehenen jüdische
n Kaufmannsfamilie in der Prager Altstadt. Er studierte Jura und verdiente seinen Lebensunterhalt als Jurist in der "Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt für das Königreich Böhmen in Prag". Er versah seinen Dienst mit Akkuratesse, seine Berufung als Schriftsteller übte er nachts aus. Totenstill mußte es sein, wenn er seine, die Psyche des Lesers beklemmenden Erzählungen, Romane verfaßte. Mit "Die Verwandlung", "Das Urteil", "Ein Prozeß", "Das Schloß" wurde ihm literarische Weltgeltung zuteil.

Zeitlebens blieb Kafka ein Einzelgänger. Bereits ein Klassenkamerad hatte über den Gymnasiasten geäußert: "Wir alle hatten ihn sehr gern und verehrten ihn auch, aber wir waren mit ihm nie richtig vertraut, eine dünne Glaswand umgab ihn." 1912 war seine zur Einsamkeit neigende Entwicklung abgeschlossen, gleichwohl litt er an "Gemeinschaftssehnsucht", die er in sozialistischen Gruppierungen zu befriedigen hoffte. Vergebens! "Familie" bedeutete "Verrat am literarischen Werk", denn "das Dasein des Schriftstellers ist wirklich vom Schreibtisch abhängig, er darf sich eigentlich, wenn er dem Irrsinn entgehen will, niemals vom Schreibtisch entfernen."

Unabhängig von diesem selbstauferlegten Axiom fehlte es nicht an Versuchen Kafkas, wenn schon nicht "Familienvater", so doch wenigstens liebender Gefährte einer geliebten Frau zu sein. Genau dies verbot die damalige Gesellschaftsordnung. Ein junger Mann hatte sich zu verloben, zu heiraten oder zu den "Huren" zu gehen. Letzteres tat auch Kafka. Prompt entstand bei ihm der Abscheu vor der "unreinen" Liebe. Dennoch: Drei Frauen - ob mit oder ohne "schmutzige Sexualität" - wirkten in sein Leben und Werk hinein.

Bei seinem Freund und Verleger Max Brod lernte er im August 1912 Felice Bauer kennen, Tochter bester jüdischer Herkunft. Was für die christliche Gesellschaft galt, galt für die strenggläubigen jüdischen Bürger in besonderem Maße; die Töchter wurden keine "Mätressen". Der selbstsicheren Felice fühlte er sich zugeneigt. Wie sie sympathisierte er mit dem Zionismus. Die Tagebucheintragungen enthalten eine "Zusammenstellung alles dessen, was für und gegen meine Ehe spricht". Schon wenig später notiert er: "Ich werde mich bis zur Besinnungslosigkeit von allen entfernen."

Zwischen diesen beiden Polen, Verbindungswunsch und Verbindungsverneinung, verliefen seine Lieben. Zweimal besuchte er Felice in Berlin, wo sie wohnte und arbeitete. Am 1. Juni 1914 verlobte er sich mit ihr und entlobte sich bereits im Juli. Die Beziehung erlischt vorerst nicht. Das geschieht erst 1917. Da begleitet er Felice zu ihrer Schwester nach Budapest. Zum zweiten Mal verlobt er sich mit ihr. Im August erleidet er einen Blutsturz. Die Diagnose lautet: Lungentuberkulose. Niemand kann von einem Lungenkranken erwarten, daß er heiratet. Ein Kranker ist sexuell entpflichtet, meint Kafka und glaubt, sein psychisch-physisches Problem sei gelöst.

1920 kreuzt die 13 Jahre jüngere Journalistin Milena Jesenska seinen Lebensweg. Sie ist Tschechin, Nichtjüdin und von ihrer Mädchenzeit an für extravaganten Lebenswandel bekannt. Gegen den Willen ihres Vaters, einem strikt national denkenden, berühmten Kieferchirurgen in Prag, heiratet sie den Literaturkritiker Ernst Pollak; er ist Jude. Bei der Eheschließung machte der Vater zur Bedingung, daß Milena mit ihrem Mann nicht in Prag wohnen dürfe. So zogen sie nach Wien. Als die Ehe sich auflöste, schrieb Milena an Kafka und bat ihn, seine Novellen ins Tschechische übersetzen zu dürfen. Sie lernen sich kennen - und Kafka erlebt die einzige furiose Leidenschaft seines Lebens. Er schreibt an Max Brod: "Sie ist ein lebendiges Feuer, wie ich es noch nie gesehen habe. Dabei äußerst zart, mutig, klug ..." Doch die Angst läßt ihn nicht aus den Fängen. In einem Brief an Milena heißt es: "Für mich ist es ja etwas Ungeheuerliches, was geschieht, meine Welt stürzt ein, meine Welt baut sich auf, sich zu, wie Du - dieses Du bin ich - dabei bestehst." Er schreibt ihr auch eine Warnung: "Deine Beziehung zu mir kenne ich aber gar nicht, sie gehört ganz der Angst an, Du kennst mich auch nicht, Milena, ich wiederhole das. "

Konnte solche Liebe dauerhaft sein? Nein! Immer wieder schreck-te Kafka vor der "fordernden und rigorosen Liebe" Milenas zurück. Ausgelebte, geballte Erotik bedeutete für Milena "die natürlichste Sache der Welt". Sie stand im krassen Mißverhältnis zur Askese Kafkas. Trotzdem: Vier Tage lebte er an ihrer Seite, frei von Liebesfurcht. In Wien hatten sie sich verabredet. Darüber berichtet Milena: "Ich habe seine Angst eher erkannt, als ich ihn gekannt habe. In den vier Tagen, in denen er neben mir war, hat er sie verloren. Wir haben über sie gelacht. Es war nicht die geringste Anstrengung nötig, alles war einfach und klar ..." Kafka reiste nach Prag zurück. Er wußte, daß es für ihn "zu spät" für eine strapaziöse Liebe war. Brieflich blieben sie in Kontakt, sahen sich auch kurz wieder. Er überreichte ihr seine Tagebücher und Manu-skripte zur Nachlaßverwaltung, sein höchster Vertrauensbeweis. Kafkas "Briefe an Milena", 1952 erstmals veröffentlicht, sind Zeugnis einer unalltäglichen Liebesromanze.

1923 entschloß sich Kafka in Berlin zu einer Wohngemeinschaft mit Dora Diamant. Die anmutige, junge Frau, deren chassidische Erziehung zu Güte und Hilfsbereitschaft verpflichtet, nimmt ihn für sie ein. Die Chassidim ("die Frommen") sind Angehörige einer in der Ukraine um 1750 gegründeten Bewegung, die - im Gegensatz zum Intellektualismus - die Gemütswerte betont und eine eigene Gebetsmystik entwickelte. Im Chassidismus glaubte Kafka, urtümliches Judentum zu erkennen. Dora Diamant wurde seine Lebensbegleiterin. Die Krankheit schritt rapide voran. Freund Robert Klopstock und Dora fuhren mit ihm ins Sanatorium in Kierling bei Klosterneuburg nahe Wien. Von beiden bewacht, stirbt Franz Kafka am 3. Juni 1924. In seiner letzten Erzählung "Josefine" spricht er vom Tod: "Vielleicht werden wir also gar nicht viel entbehren, aber erlöst von der irdischen Plage sein."



Erste Liebe: Franz Kafka und Felice Bauer
 
     
     
 
Diese Seite als Bookmark speichern:
 
     
     
     

     
 

Weitere empfehlenswerte Seiten:

Ungeist

Arbeit ist Kunst

Tschechien: Warmer Geldregen

 
 
Erhalten:
 

 

   
 
 
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
WISSEN48 | ÜBERBLICK | THEMEN | DAS PROJEKT | SUCHE | RECHTLICHE HINWEISE | IMPRESSUM
Copyright © 2010 All rights reserved. Wissensarchiv