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Eine ganz besondere Karriere

 
     
 
Sieh einmal, hier steht er, pfui, der Struwwelpeter!“ Der garstige Unhold mit den langen Haaren und noch längeren Fingernägeln mag einst Kinder erschreckt haben. Spätestens seit in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Rock-Ikone Jimmy Hendrix mit seiner Struwwelpeter-Frisur die Jugend begeisterte und sie schließlich gesellschaftsfähig machte, ist Heinrich Hoffmanns Figur nicht mehr das Schreckgespenst. Das Buch aber, dem er den Namen gab, ist noch heute ein Begriff. Eine spontane „Umfrage“ in der Zentrale brachte überraschende Ergebnisse. Ganz gleich welcher Generation die Befragten angehörten, Struwwelpeter & Co. waren ihnen bekannt. Selbst die ganz jungen Kollegen bekamen glänzende Augen und erinnerten sich an einzelne Verse, an einzelne Figuren. Paulinchen, die einzige weibliche Hauptfigur, wurde genannt, der Daumenlutscher, den ein schreckliches Schick-sal ereilte, Suppen-Kaspar natürlich und der Zappel-Philipp. Der große Nikolaus, der drei böse Knaben in ein Tintenfaß taucht, weil sie einen „kohlpechrabenschwarzen Mohr“ verulkt hatten, der bitterböse Friederich, der Tiere quält, der pfiffige Hase, der dem Jäger das Gewehr stibitzt und den Spieß kurzerhand umdreht, ach ja, der fliegende Robert und Hanns Guck-in-die-Luft ... Sie alle haben unser Bild vom Leben einst geprägt. Einige Sprüche aus diesem Buch sind sogar zu geflügelten Worten geworden („und die Mutter blicket stumm auf dem ganzen Tisch herum“). Was hat er an sich, dieser Struwwelpeter, der ja nun auch schon einige Jährchen auf dem Buckel hat? – Man schrieb das Jahr 1844, als der Arzt und Psychiater Heinrich Hoffmann für seinen damals dreijährigen Sohn Carl-Philipp dringend ein Weihnachtsgeschenk suchte. Ein Bilderbuch sollte es sein, doch die Exemplar
e, die er damals in den Buchläden fand, schienen ihm nicht geeignet. Zu wenig kindgerecht waren ihm die Bücher; sentimentale Märchen sollten es auch nicht sein. Und so besorgte Hoffmann sich kurzerhand ein leeres Heft und fing an, selbst ein Bilderbuch herzustellen. Heinrich Hoffmann wurde am 13. Juli 1809 als Sohn des Architekten und Städtischen Wasser-, Wege- und Brückenbauinspektors Philipp Jacob Hoffmann in Frankfurt am Main geboren. Er studierte Medizin in Heidelberg, Halle und Paris und arbeitete zunächst in einer Armenklinik seiner Vaterstadt. Am renommierten Senckenbergischen Institut unterrichtete er Anatomie, bis er 1851 eine Anstellung als Arzt an der Städtischen Anstalt für Irre und Epileptiker fand. Ihm ist es zu verdanken, daß die Anstalt sowohl architektonisch als auch pflegerisch auf den neuesten Stand gebracht wurde. Neben seiner verantwortungsvollen Aufgabe als Arzt widmete Hoffmann sich 1838 den Vorbereitungen für das erste Deutsche Sängerfest und war 1848 Mitglied des Frankfurter Vorparlaments, das die erste deutsche Nationalversammlung in der Paulskirche vorbereitete. In schöngeistigen Zirkeln fand er außerdem den Ausgleich für seinen Beruf. Hoffmann war verheiratet und hatte drei Kinder. Er starb am 20. September 1894 in Frankfurt. Schon früher hat Hoffmann gezeichnet und gedichtet, vor allem um seine kleinen Patienten zu erfreuen und sie vor der Behandlung ein wenig abzulenken. Ermahnungen wie „sei brav“ fruchteten in solchen Situationen auch damals überhaupt nicht. Pfiffige Geschichten aber und selbst drastische Bilder wie das von dem Bengel, der sich Haare und Nägel nicht schneiden lassen will, nahmen die Kinder gefangen und faszinierten sie. Der Psychiater Hoffmann ging auf ihre Ängste ein und machte sich augenzwinkernd zu ihrem Komplizen. Nicht nur Kinder waren schließlich von den Geschichten begeistert, Hoffmanns Freunde drängten ihn, das Buch drucken zu lassen. 1845 erschien die erste nach der Urhandschrift lithografierte Ausgabe unter dem Titel „Lustige Geschichten und drollige Bilder mit 15 schön kolorierten Tafeln für Kinder von 3 bis 6 Jahren“. Der Verfasser verbarg sich hinter dem Pseudonym „Reimerich Kinderlieb“, da er den Neid seiner Mitmenschen fürchtete, sollte er Erfolg mit dem Büchlein haben. Und den hatte er! Die ersten 1.500 Exemplare waren innerhalb von vier Wochen ausverkauft. Auflage folgte um Auflage; erst ab der 5. Auflage 1847 las man den wirklichen Namen des Verfassers (mit Doktortitel). In dieser Auflage war der Struwwelpeter schließlich auch die Titelgestalt. Im Urmanuskript, das sich heute im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg befindet, ziert der Struwwelpeter noch die letzte Seite. Bis 1939 erschienen etwa 5.000 Auflagen, hinzu kamen zahlreiche unlizensierte Drucke. Den Struwwelpeter gab es bald auch in den verschiedensten Übersetzungen; 35 an der Zahl sollen es heute sein. Hoffmann selbst benutzte eine russische Version schon 1847 für die bildnerische Überarbeitung des deutschen Buches. In Esperanto oder Japanisch, Afrikaans oder Rätoromanisch sind mittlerweile die Missetaten eines Friederich oder eines Zappel-Philipp zu lesen. Als „Petrulus Hirsutus“ tritt der Struwwelpeter sogar in lateinischer Sprache auf; selbst Mundarten haben vor dem Text nicht halt gemacht. Ein solcher Erfolg ruft natürlich auch Nachahmer und Kritiker auf den Plan. Sehr bald gab es Bücher auf dem Markt, die das Konzept aufgriffen, also Text und Bild zu einer Einheit verbanden, damit selbst kleine Kinder die Bilderfolgen wie heute einen Comic „lesen“ konnten. Die Nachfolger Hoffmanns machten allerdings mit den garstigen Kindern kurzen Prozeß und wandten drastische Strafen an. 1864 erschien dann „Die Schreiliesel“, 1870 „Die Struwwelliese“, Gleichberechtigung muß schließlich sein. Auch hier waren die Strafen nicht zimperlich. Schon früh gab es auch den „Anti-Struwwelpeter“. So brachte 1914 Fritz Stern ein „Bilderbuch für die Großen“ heraus, der den Struwwelpeter als Symbol für den natürlichen Menschen der Jugendbewegung und Neuromantik sah. Auch die antiautoritäre Erziehungswelle nahm sich des Struwwelpeter an. Und wenn man genau hinschaut, dann entdeckt man in dem Original auch den kleinen Radikalen, den Anarchisten, einen jungen Menschen, der sich nichts sagen lassen will. Selbst die Politik hat sich schließlich an den Struwwelpeter herangemacht. Schon 1849 erschien „Der politische Struwwelpeter. Ein Versuch zur Einigung Deutschlands“. Da trägt der „garstige Michel“ ein Hemd mit 39 Flicken als Symbol für die damals existierenden 39 deutschen Fürstentümer. In Krisenzeiten war der Struwwelpeter besonders beliebt. 1914 erschien er in England als „Swollenheaded William“ – Kaiser Wilhelm in Struwwelpeterpose, den Kopf als dicken Ballon tragend und mit Blut an den Händen. Ein Jahr später dann die Reaktion aus Deutschland. „Der Kriegsstruwwelpeter – Lustige Bilder und Verse“ von Karl Ewald Olszewski erschien und nahm die Kriegsgegner aufs Korn. Der russische Großfürst Nikolai wurde zum bitterbösen Friederich, der der Friedenstaube die Flügel ausreißt, und die französische Marianne entzündet einen Brand, in dem sie selbst umkommt. Die „Krönung“ dann kam 1941, als in London ein „Struwwelhitler“ mit gewaltiger schwarzer Haarmähne erschien ... Immer wieder greifen auch heute noch mehr oder minder begabte Grafiker auf den Struwwelpeter zurück und verwerten ihn für ihr Anliegen. Kein Exemplar der „Struwwelpetriaden“ allerdings kommt an das Original heran. Literaturwissenschaftler nennen Heinrich Hoffmann gar auch einen „Copernicus der Kinderliteratur“, habe er doch ein herausragendes, neuartiges Kinderbuch geschaffen, das heute zu den Klassikern zählt. Selbst in Museen hat der Struwwelpeter Eingang gefunden. So besitzt die Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt eine große Sammlung zu diesem Thema. Neben deutschen Ausgaben und Übersetzungen sowie Nachahmungen finden sich dort auch Spiele und die anderen Kinderbücher von Heinrich Hoffmann. Das Originalmanuskript zur zweiten Fassung des Struwwelpeters von 1858 wird in der Handschriftenabteilung verwahrt. Das Frankfurter Struwwelpeter-Museum, Schirn am Roemerberg, beherbergt einen großen Teil des Nachlasses von Heinrich Hoffmann und gibt auch Auskunft über sein Wirken als Arzt und Reformer der Psychiatrie. In der Schubertsraße 20, ebenfalls in Frankfurt / Main, hat das Heinrich-Hoffmann-Museum seit 1977 sein Domizil (dienstags bis sonntags 10 bis 17 Uhr). Dort können Kinder und Erwachsene in die Welt des Struwwelpeters eintauchen und sich sogar verkleiden. Ganz im Sinne Hoffmanns mag es sein, daß unter einem Dach mit dem Museum eine Werkstatt für psychisch Kranke untergebracht ist. Das Museum bietet darüber hinaus auch Reha-Arbeitsplätze an. Peter van Lohuizen Der Struwwelpeter: Die erste Fassung des Knaben mit den langen Haaren und Nägeln (heute im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg); und rechts der Nikolaus mit dem großen Tintenfaß  Fotos: Archiv

 
     
     
 
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