|
Im Rückspiegel erscheint die hinter einem liegende Welt gewöhnlich etwas kleiner - im übertragenen Sinne aber läßt der Blick in den Rückspiegel eines 300 SL das Jubiläumsjahr 1955 ganz groß auftreten: Vor einem halben Jahrhundert erlebten die Erfinder des Motorwagens ihr sportlich erfolgreichstes Jahr in der inzwischen fast 120jährigen Automobilgeschichte. Der Argentinier Juan Manuel Fangio wurde mit fünf Grand-Prix-Siegen Weltmeister in der Formel 1. Gemeinsam mit Stirling Moss (WM-Zweiter) und Karl Kling holte er auch den Sportwagen-Weltmeistertitel nach Stuttgart, zudem wurde Werner Engel mit seinem Team Tourenwagen-Europameister.
Das legendäre Markenzeichen der Erfolge: 300 SL. 1952 waren die ersten Exemplar e dieses völlig neu konzipierten Sportwagens auf den internationalen Rennstrecken aufgetaucht, sowohl als offene Roadster als auch mit Mini-Flügeltüren als Coupé. Eine aus letzterem entwickelte straßenverkehrstaugliche Version wurde erstmals 1954 in New York präsentiert. Die ersten bis Jahresende produzierten 166 Fahrzeuge waren schnell verkauft.
Im Jahr 1955 entstanden im Mercedes-Werk Sindelfingen 856 Coupés vom Typ 300 SL (Baureihe 198), darunter 26 mit Leichtmetallaufbau. 1956 wurden nur noch 308 Flügeltürer gebaut; mit den letzten 70 Modellen endete 1957 die Kleinserie (insgesamt 1.400 Stück). Zugleich aber begann damit der Legende zweiter Teil.
Die gedankliche Vorgabe war damals schon zehn Jahre alt:
Ende 1947, als große Teile Deutschlands noch in Trümmern lagen, postulierte Generaldirektor Wilhelm Haspel, man brauche "unter der Voraussetzung, daß das Verhältnis Dollar zu Reichsmark 1:4 festgesetzt würde, ein Fahrzeug, das den Namen Mercedes wieder vergoldet". Also ein hochkarätiger, für den US-Markt tauglicher Sportwagen.
Das war der Flügeltürer mit seinem engen, meist überhitzten Innenraum eigentlich nicht. Wenn er dennoch in kürzester Zeit in Amerika Kultstatus erlangte, lag das an seiner sensationellen Technik und seiner bis heute bestechenden Schönheit. Das Klima an der kalifornischen Westküste, wo in der Filmbranche viel Geld verdient (und für Luxus ausgegeben) wurde, verlangte aber nach einem offenen Sportwagen.
Die Antwort aus Stuttgart war 1957 der 300 SL Roadster. Er blieb bis 1964 im Programm und brachte es auf 1.858 Exemplare, von denen die meisten nach den USA exportiert wurden. Eines der raren in Deutschland verbliebenen und heute noch einsatzbereiten Stücke (dank der Mercedes-Oldtimer-Abteilung in Fellbach bei Stuttgart) zwei Wochen lang fahren zu können, zählt zu den absoluten Glanzlichtern im Leben eines Autofahrers; seit ich am 9. Januar 1960 meine Führerscheinprüfung bestand, habe ich kein automobiles Vergnügen erlebt, das auch nur annähernd an diese "Testfahrten" der ganz besonderen Art herangekommen wäre (es handelte sich übrigens um einen Vergleichstest des Klassikers mit dem neuen SL).
Das Besondere begann schon, bevor ich zum erstenmal auf jenes Stück Blech treten konnte, das in der Original-Betriebsanleitung als "Fahrfußhebel" bezeichnet wird: In Fellbach muß ich - nach mehreren Jahrzehnten unfallfreien Fahrens - erst einmal lernen, wie man dieses Sportgerät überhaupt in Bewegung setzt. Man hat es hier nämlich nicht nur mit einer gewöhnungsbedürftigen Schaltung und Kupplung zu tun, sondern auch mit Merkwürdigkeiten wie einem Zugschalter für die Zusatz-Kraftstoffpumpe oder dem Drehknopf für die Zündzeitpunktverstellung.
Dann kann es endlich losgehen. Nach erfolgreicher Startzeremonie lauscht man andächtig der "Musik", mit der das Sechszylinder-Triebwerk akustisch ankündigt, was in ihm steckt. Mit über 200 PS und hohem Drehmoment steht genügend Kraft zur Verfügung, um durchaus "sportliche" Fahrleistungen zu erzielen. Mit der langen Getriebeuntersetzung kamen wir auf über 260 Stundenkilometer. Wahrer Fahrspaß stellt sich auf kurvigen Bergstraßen ein; dieses betagte Fahrwerk kann mit manch modernem weitgehend mithalten, verlangt zwar stets hohe Aufmerksamkeit, ist aber dank des ausgesprochen gutmütig-neutralen Kurvenverhaltens problemlos beherrschbar.
Aufmerksamkeit - das ist das dominierende Stichwort auf allen Fahrten. Sie wird einem zuteil, wo immer man mit dieser rollenden Legende auftaucht. Während ich vor einer Ampel auf Grün warte, springt der Hintermann aus seinem Wagen und bittet um ein Autogramm auf dem soeben geschossenen Polaroidbild. Zeitgenossen, die sonst immer der Erste sein wollen, können auf einmal geduldig hinter mir herfahren. Und in Heinz Winklers Residenz in Aschau ist ein Tisch frei, obwohl man gar nicht reserviert hat. Jeder kennt dieses Auto, von dem es nicht einmal 2.000 Stück gegeben hat. An einen Opel Olympia Rekord oder einen Ford 12 M, ebenfalls in den 50er Jahren gebaut, allerdings mehrere 100.000 Mal, kann sich hingegen kaum noch jemand erinnern.
Mercedes 300 SL - bei Liebhaberpreisen im sechs- bis siebenstelligen Bereich und einem Verbrauch um 20 Liter Super (nicht vom Feinsten, aber vom Teuersten!) nichts für alle Tage. En wunderschöner Traum - vor allem, wenn er für kurze Zeit Wirklichkeit wird. Doch wenn ich heute an der Diesel-Zapfsäule vorfahre, weiß ich, daß auch der Alltag seine Reize haben kann.
Klassiker in historischer Kulisse: Auf einer Ausfahrt mit dem 300 SL Roadster (Baujahr 1957) lädt das oberbayerische Neubeuern (Gründungsjahr 788) mit seinem malerischen Marktplatz den Autor zum Verweilen ein. |
|