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Estland - auf gutem Wege

 
     
 
Im „Fortschrittsbericht“ bescheinigt die EU-Kommission allen Beitrittskandidaten, daß sie mit beachtlichem Erfolg um die Erfüllung der Voraussetzungen für die Aufnahme bemüht seien. Allerdings verschweigt Brüssel nicht die unterschiedlichen „Reifegrade“ der EU-Anwärter. Estland hat ein gutes Zwischenzeugnis bekommen.

Die Kommission sieht in allen für die Zuerkennung der Beitrittsreife wichtigen Problembereichen eine positive Entwicklung. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Entschärfung der Minderheitenfrage. In der Zwischenkriegszeit
hatte Estland den Volksgruppen eine vorbildliche Kultur- autonomie gewährt. Daran knüpfte Estland nach der wiedergewonnenen Unabhängigkeit an, doch hatte sich inzwischen die ethnische Zusammensetzung tiefgreifend geändert:

Die Deutsch-Balten und die Juden, die aktivsten Gestalter der Kulturautonomie, gibt es bestenfalls nur noch in „Spurenelementen“. Die Russen hingegen, die vor der sowjetischen Besetzung etwa acht Prozent ausmachten, waren bis zur Wende auf gut 35 Prozent angewachsen. Während an der Loyalität der russischen Stammbevölkerung nie Zweifel bestanden, mißtrauten die Esten den durch die brutale Russifizierung ins Land gebrachten Sowjetbürgern, hatten diese doch keine innere Bindung zu Estland und konnten den Zusammenbruch der russischen Herrschaft nur schwer verwinden.

Im Westen gab es wenig Verständnis dafür, daß Estland diese Sowjetbürger nicht ohne weiteres als Staatsbürger anerkannte, sondern von ihnen außer einem Bekenntnis zur Republik Estland auch Mindestkenntnisse in der estnischen Sprache als Voraussetzung für die Einbürgerung verlangte. Manche westlichen Journalisten, die sich in der baltischen Geschichte - insbesondere den sowjetrussischen Greueltaten - nicht auskannten, hörten auf die Moskauer Propaganda-Thesen von der Diskriminierung der russischen Minderheit, obwohl diese Russen weitaus leichter die estnische Staatsbürgerschaft erlangen konnten, als in Deutschland geborene Türken die deutsche.

Wie sieht nun derzeit die Situation der Russischsprachigen - Russen, Ukrainer, Weißrussen - aus?

Es gibt russische Kindergärten und Schulen. Russischsprachige studieren an den Universitäten und Hochschulen des Landes und dienen gleichberechtigt in der estnischen Armee. Jedermann - unabhängig von seiner Staatsangehörigkeit - hat das aktive Kommunalwahlrecht. Aus der Medienlandschaft sind russische Zeitungen und Zeitschriften, Hörfunk- und Fernsehsendungen nicht fortzudenken; und im Parlament sitzen neben Esten auch russischsprachige Abgeordnete.

Daß nur Staatsbürger Staatsämter ausüben dürfen und das passive Wahlrecht haben, ist allerdings in Estland genauso selbstverständlich wie in nahezu allen europäischen Staaten. Und daß jemand, der der Landessprache unkundig ist, berufliche Nachteile hat, ist ebenso selbstverständlich und hat mit Diskriminierung nichts zu tun.

Von den früheren (russischsprachigen) Sowjetbürgern hat sich inzwischen gut ein Drittel für die estnische Staatsbürgerschaft entschieden und bemüht sich um diese. Im Gebiet Narwa ist das nicht ganz einfach, weil bei über 90prozentigem Anteil Russischsprachiger das sprachliche Umfeld fast monokolor russisch ist.

Ein weiteres Drittel schwankt noch und hat bisher die Staatenlosigkeit gewählt, und ein knappes Drittel möchte an der russischen Staatsangehörigkeit festhalten oder sie erneuern. Dies sind vor allem die wenigen Restkommunisten und Angehörige der alten Generation, die nicht die schwierige - von den Sowjets als „Hundesprache“ diffamierte - estnische Sprache erlernen können oder wollen. Die junge russischsprachige Generation indes scheint mehrheitlich anders zu denken. Ob ich das richtig sehe?

Ministerpräsident Mart Laar zum : „Ganz klar ja! Ich komme gerade aus Narwa zurück. Dort bietet eine lokale Initiative Kindern russischsprachiger Eltern estnischen Schulunterricht in allen Fächern an. Der Andrang zu dieser Schule ist enorm. Diese Tendenz ist übrigens allgemein. Ungefähr 80 Prozent der Kinder der 1. Klasse von russischsprachigen Eltern besuchen bereits estnische Schulen. Und wenn Sie wissen wollen, wie diese Generation denkt und fühlt, so kann ich Ihnen nur sagen, daß sich diese Russen und die Esten inzwischen sehr ähnlich geworden sind. Und Sie werden es sehr, sehr schwer haben, in Estland Russischsprachige zu finden, die wollen, daß Moskau wieder in Estland regiert.“

Außenminister Hendrik Ilves bestätigt diese positive Beurteilung der jüngeren Generation der Russischsprachigen, als ich ihn danach frage, ob er es sich vorstellen könne, daß Moskau oder radikale Kräfte in Rußland im Falle einer Aufnahme Estlands in die Nato die russische Minderheit zu Aktionen gegen die Regierung instrumentalisieren könnten.

Ilves sieht keine Gefahr. Zwar habe es Anfang der 90er Jahre solche Befürchtungen gegeben, als von einer Vereinigung des russischen Volkstums im Ausland mit dem Mutterland die Rede gewesen sei, aber eine wirklich ernsthafte Gefahr habe es nicht gegeben. Nein, er sehe keine Gefahr. „Und in Narwa erst recht nicht.“ Ilves lächelt: Die Russen bräuchten ja nur über die Brücke nach Iwangorod zu gehen, um die schlimmen Lebensverhältnisse in Rußland zu erkennen. 1992/93 habe es unter den Russen dort wohl ähnliche Bestrebungen wie im transnistrischen Teil von Moldawien gegeben, doch heute sei von einer Irredenta nichts zu spüren. „Nein, eine Instrumentalisierung der russischen Minderheit ist nicht zu befürchten.“

Auch nicht von jenen paar tausend ehemaligen Offizieren der Roten Armee, die als 35jährige „Frühpensionäre“ in Estland geblieben seien? Vielleicht als „Fünfte Kolonne“?

Ilves schüttelt den Kopf: „Auch von diesen nicht.“ Diese jungen ehemaligen Offiziere hätten sich inzwischen im Wirtschaftsleben engagiert. Sie bräuchten ja nur nach Moldawien zu blicken. Dort hätten ihresgleichen keine Möglichkeiten in der Wirtschaft. Außerdem gebe es dort eine bedenkliche Polarisierung zwischen Russen und Moldawiern. In Estland nichts dergleichen. „Nein, den Russen geht es in Estland einfach besser.“

Die Statistik gibt Ilves recht: Während in den ersten Jahren nach der Wende noch einige zehntausend Russen Estland in Richtung Osten verließen, ist der Strom der Rückwanderer nahezu vollständig versiegt.

Im Rahmen ihrer Integrationspolitik hatte die Regierung estnische Familien aufgerufen, in den Sommerferien russischsprachige Kinder bei sich aufzunehmen. Ich selbst hatte im Juni eine solche Familie besucht. Wie war allgemein die Resonanz auf diesen Aufruf bei Esten und Russischsprachigen, will ich wissen.

Regierungschef Laar: „Beide Seiten haben sehr positiv reagiert. Ich kann sagen, daß es eines der erfolgreichsten Projekte unserer Integrationspolitik ist - und eines der wichtigsten überhaupt, weil es nämlich auch die estnische Bevölkerung aktiv in den Integrationsprozeß einbindet. Die Integration wird so zu einer ge- meinsamen Aufgabe von Esten und Russischsprachigen.“

Wie weit die Integration fortgeschritten ist, wird am Ergebnis der jüngsten Meinungsumfrage zur Verteidigungsbereitschaft deutlich: 61 Prozent der Esten bekannten, daß sie Estland mit der Waffe in der Hand verteidigen würden. Bei den nichtestnischen Staatsbürgern lag die Zustimmung bei 50 Prozent. Unter der nichtestnischen Bevölkerung ohne estnischen Paß ist die Verteidigungsbereitschaft seit Juni von 44 auf erstaunlicherweise ebenfalls 61 Prozent gestiegen. Fazit: Das Ja zu Estland ist nicht mehr eine Frage der ethnischen Zugehörigkeit der Menschen in dieser Baltenrepublik. Die Minderheitenfrage hat ihre staatspolitische Brisanz verloren.

 
     
     
 
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