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Gemeinsam und einträchtig feierten Deutsche und Polen am 22. Juni den 500. Gründungstag von Borschimmen, Kreis Lyck. Mit musikalischer Unterstützung des dort geborenen Kantors und Organisten an der Offenbarungskirche in Berlin, Erich Piasetzki, sollten der polnische katholische Ortspfarrer Tadeusz Machaj und der deutsche evangelisch-lutherische Pastor Dr. Norbert Kotowski die Liturgie gemeinsam im Geiste der Ökumene und der Völkerverständigung bestreiten.
In seiner Predigt, die er über den Hebräerbrief, Kap. 13, 14 ("Denn wir haben keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir") hielt, nahm Pastor Kotowski auch zu der zur Zeit in aller Munde befindlichen Verfassung der Europäischen Union Stellung. Dabei mahnte er, daß der Rückblick auf die griechisch-lateinische Antike und die französische Aufklärung für die Präambel nicht genüge und den christlich-abendländischen Gottesbezug nicht ersetzen könne. Als vorbildlich führte der Geistliche in diesem Punkte die polnische Verfassung an.
Zumindest auf den ersten Blick provozierend mag auf manche der deutschen Zuhörer Kotowskis Versuch gewirkt haben, Flucht und Vertreibung etwas Positives abzugewinnen. So bezeichnete er es als Segen für uns alle, daß die Heimatlosigkeit der Christen, wie sie in dem von ihm gewählten Bibelvers zum Ausdruck kommt, durch Flucht und Vertreibung wieder in Erinnerung gerufen worden sei. "Sie haben richtig gehört", fuhr er zur Bekräftigung in seiner Predigt fort, "all die Schrecknisse, die im Zusammenhang mit Flucht und Heimatlosigkeit stehen, haben nach dem bronzezeitlichen Verständnis der heiligen Schrift mit Segen und Gnade zu tun und nicht in erster Linie mit Strafe, Verbannung und ,Sibirien . Oder wißt Ihr nicht, fragt uns der Apostel Paulus, daß unser Bürgerrecht und Heimatrecht im Himmel ist und nicht auf dieser Erde? Abrahams Heimatlosigkeit und Wanderschaft ist uns ein Vorbild ..."
Der gern gesehene Überraschungsgast Pfarrer Eduard Prawdzik, der im Programm nicht vorgesehen gewesen war, ergriff ebenfalls das Wort und gab in bewegender Weise seinen Gefühlen darüber Ausdruck, daß sich für ihn nach Jahrzehnten in der Fremde nun ein Kreis geschlossen hat.
Prawdzik kam 1935 in Reiffenrode, Kreis Lyck, zur Welt, wo er eine angenehme Kindheit ohne materielle Not verbrachte, da seine Eltern einen ansehnlichen Bauernhof besaßen. Die kriegsbedingte Flucht verschlug die Familie dann nach dem dänischen Aarhus, wo sie schließlich interniert wurde. Im Sommer 1947 bestand die Möglichkeit der Ausreise nach Deutschland. Da die Mutter streng katholisch war, zog die Familie nach Schwaben. Über kurz oder lang mußte sich der Junge nun entscheiden, was er werden wollte. Dabei half ihm ein Erlebnis, daß er schon in der Heimat gehabt hatte.
"In der Schule", so Prawdzik über diesen Klärungsprozeß, "hatte der Lehrer erklärt, ,wollen wir nach Amerika gelangen, brauchen wir nur immer nach Osten zu gehen, aber man kann auch nach Amerika kommen, wenn man der untergehenden Sonne folgt. Unsere Erde ist ja eine Kugel . So dachte ich mir: ,Wenn das so einfach ist, dann ist die Welt klein, ziemlich wenig . In diesem Moment wurde es mir klar: ,Also, Eduard, dann wirst du einmal einen Beruf ergreifen, der über unsere Welt hinausreicht und sich nach größeren Dimensionen ausstreckt. - Dann kam die Vertreibung mit all den erschütternden Erlebnissen. Wissensdurstig wie ich war, stellte ich oft Fragen, so unter anderem: ,Mutti, sag mal, warum sind die Menschen so schlecht zueinander? Mutti versuchte es zu erklären, am Ende sagte sie dann etwas unwillig: ,Junge, die Sünde ist an allem schuld. Die Menschen sind Sünder, das heißt, sie mißbrauchen die Freiheit, um Böses zu tun. Sie folgen oft mehr dem Teufel als Gott. ,Die Sünde ist daran schuld , wiederholte ich für mich. Dieser Gedanke beschäftigte mich sehr. In der Internierung hatten wir viel Zeit, ich konnte gute Bücher aus der Pfarrbibliothek lesen. Unser Pfarrer begeisterte uns. So reifte in mir mehr und mehr die Überzeugung: ,Ich will den Menschen helfen, der Sünde zu widerstehen und sich mehr dem Guten zuzuwenden, denn nur dadurch kann es mehr Frieden auf Erden geben . Ja, ich wollte Priester werden und dazu Missionar in einem fernen Land."
Gesagt getan. Kaum in der Bundesrepublik ließ sich Prawdzik in den Gymnasien und Seminaren der Steyler Missionsgesellschaft ausbilden. Nach der Priesterweihe und einem kurzen Sprachstudium in Liverpool fuhr der Ostpreuße mit einem Frachter zu den Philippinen, wo große Aufgaben auf ihn warteten. Daß er nach 29 Jahren dann trotzdem nach Europa zurückkehrte und dann auch noch in seine Heimatprovinz, lag an den Katholiken unter den Rußlanddeutschen, die nach Priestern suchten.
Über seine neuen Erfahrungen in der Heimat sagt er selbst: "Die erste Hürde war die russische Sprache, zum Teil habe ich dieses Hindernis überwunden. Die Gottesdienste feiere ich in dieser uns doch recht fremden Zunge. Unsere Rußlanddeutschen können kaum noch deutsch sprechen. Auch in anderer Hinsicht ist die Lage delikat: mit den Behörden, mit den Wohn- und Straßenverhältnissen, die Grenze ist ein richtiges Kreuz, selbst innerhalb der Kirchenstruktur spürt man bisweilen, daß das Blut der Volkszugehörigkeit oft ,dicker ist als das Gelübde Gott und der Kirche gegenüber. Andererseits mit Geduld, gesundem Selbstvertrauen, mit Humor und Hilfe guter Menschen, die es überall gibt, konnte ich bisher meinen Mann stellen. Die Verkündigung des Glaubens, der Aufbau einer Gemeinde und Solidarität mit Menschen in Not sind die Aufgaben, die uns Gott anvertraut hat. - Seit gut einem Jahr leben ein polnischer Mitbruder und ich in Tapiau. Dort haben wir ein Gebäude aus deutscher Zeit gekauft und aus diesem heruntergekommenen Haus, mit viel Mühe und großen Auslagen, haben die kirchliche Gemeinschaft ,Lumen Christi und wir ein Heim für religiöse Kurse geschaffen. Jung und Alt sind willkommen, sich hier geistig zu erneuern ... Über einen Besuch würden wir uns sehr freuen und auch über jede Art von Unterstützung."
Im Anschluß an den Gottesdienst marschierte die Gemeinde mit der Geistlichkeit an der Spitze ähnlich einer Prozession zum deutschen Friedhof des Kirchspiels Borschimmen, um hier eine Gedenkstätte einzuweihen. Die Einweihungsrede hielt jener Borschimmer, dem es wie keinem anderen zu danken ist, daß es überhaupt etwas einzuweihen gab, Alfred Valtin. Der Ortsvertreter von Borschimmen hat dafür Sorge getragen, daß wenigstens ein Drittel des drei Morgen großen alten Friedhofs wieder in einen gepflegten, würdigen Zustand versetzt worden ist, und zeichnet verantwortlich für den Gedenkstein. Valtin bediente sich professioneller Helfer. So war der Steinmetz Saturin Siemion am Entwurf und der Errichtung beteiligt. Und das das Mahnmal krönende Kreuz wurde von Hans Skubisch in seinem Wohnort bei Eutin geschmiedet. In den Stein eingelassen sind eine Platte mit der Inschrift "Zum Gedenken an unsere Tote. Ortsgem. Borschimmen" einschließlich polnischer Übersetzung und der Jahreszahl "2003" sowie die Tafeln des zerstörten Borschimmer Kirchspieldenkmals für die Opfer des Ersten Weltkrieges. Ein Wehrmutstropfen bildet die fehlende Schrifttafel für die Opfer aus Borschimmen, doch nimmt dieses Manko dieser Stätte der Erinnerung nichts von ihrer Würde.
Den beiden besinnlichen Programmpunkten in der Kirche und auf dem Friedhof folgte ein heiteres Volksfest auf dem Schulhof der gegenüber dem Kirchengebäude auf der anderen Straßenseite gelegenen Schule des Ortes. Auf und vor einer provisorischen Bühne trugen Schüler Lieder, Texte und Tänze vor, die von polnischem Brauchtum bis zu amerikanischem Rock n Roll reichten und von einem dankbaren Publikum mit viel Beifall bedacht wurden.
Im Anschluß an die Schülervorführung bot neben dem Schulgebäude die örtliche Feuerwehr einen Einblick in ihre Arbeit. Ein schwerer Verkehrsunfall wurde simuliert. Ein Feuerwehrmann setzte sich in einen schrottreifen kleinen Polski-Fiat und spielte den Schwerverletzten, neben ihm wurde ein kleines Feuer entfacht, und die Übung konnte beginnen. Mit Blaulicht und Sirene eilte ein Feuerwehrfahrzeug herbei. Schnell wurde der Feuerwehrschlauch entrollt und bald hieß es "Wasser marsch". Bei einem zwischen zwei Schläuchen geschalteten Verteiler war das Auslaßventil geöffnet, an dem der nächste Schlauch nicht angeschlossen war, so daß anfänglich hier das Wasser entströmte. Nach dem ersten Schreck war schnell das Ventil geschlossen. Jetzt war der Wasserdruck am Ende des angeschlossenen Schlauches derart stark, daß die Spritzendüse sich vom Schlauch löste, so daß das Wasser aus dem Schlauchende eher plätscherte denn spritzte. Ein weiterer Feuerwehrbeamter zog jedoch einfach das Brennende neben dem Auto fort und damit galt der Wagen als gelöscht und die Rettung des Fahrers konnte beginnen. Es war schon beeindruckend, wie hier mit modernem elektrischen Gerät, der Kleinwagen auseinandergenommen wurde, um an den Kraftfahrzeugführer heranzukommen. Erst wurden die Türen von der Karosserie abgerissen und anschließend die Limousine durch die Entfernung des Daches in ein Cabrio verwandelt. Nun konnte der Fahrzeugführer, nachdem ihm zum Schutze des Genicks eine Halskrause verpaßt worden war, aus dem Wagen gezogen, auf eine Trage gelegt, mit Folie für Verbrennungsopfer bedeckt und der ärztlichen Behandlung zugeführt werden.
Nach dieser Vorführung lud die Kreisgemeinschaft Lyck zum geselligen Gespräch bei Bigos und Bier. Für die bundesdeutschen per Bus angereisten Festteilnehmer, welche die Rückreise in ihr Quartier noch vor sich hatten, näherte sich das Fest damit langsam aber sicher seinem Ende. Von polnischer Seite wird berichtet, daß noch bis weit in die Nacht hinein weitergefeiert wurde. D. Beutler
Gedenksteineinweihung auf dem alten Friedhof: Ortsvertreter Alfred Faltin fand in seiner Rede auf dem Gottesacker die passenden Worte
Volksfest: Der unterhaltsame Teil des Programms wurde mit einer Schülervorführung auf dem Hof der örtlichen Schule eingeleitet |
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