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Vergan-genes Jahr, als sich das Ende des Zweiten Weltkrieges zum 60. Mal jährte, gehörte Michael Wieck zu den in den Medien wohl mit am häufigsten bemühten Zeitzeugen. Wieck, 1928 in Königsberg geboren, hat schon in den 80er Jahren in „Zeugnis vom Untergang Königsbergs – Ein ,Geltungsjude‘ berichtet“ seine Erinnerungen veröffentlicht, doch 2005 paßten seine – inzwischen übrigens auch ins Englische und Russische übersetzten – Erlebnisse hervorragend zum Themenschwerpunkt des Jubiläumsjahres.
Das Besondere an den zu Papier gebrachten Erlebnissen des zuletzt als Erster Konzertmeister des Stuttgarter Kammerorchesters tätigen Violinisten ist die Tatsache, daß er zu den wenigen gehört, die die in der Hölle auf Erden gemachten Eindrucke auch überlebt haben. Als Sohn des Ehepaares Wieck, das Mitglied im Königsberger Streichquartett war und auch überregional einen gewissen Bekanntheitsgrad hatte, gehörte der Halbjude Michael nicht zu jenen, die in Konzentrationslager abtransportiert wurden. Doch der Bekanntheitsgrad und der nichtjüdische Hintergrund seines Vaters konnten nur den inneren Kern der Familie schützen, und so mußte der Junge mitansehen, wie unter anderem seine über alles geliebte Tante Fanny, Schwester seiner Mutter, in einem Zug abtransportiert wurde, ohne daß er jemals erfuhr, wo sie sterben mußte.
Kurz darauf wurde seine Heimatstadt bei britischen Bombenangriffen zerstört. Auch über die Belagerung der Stadt durch die Rote Armee und den Einmarsch der Sowjets berichtet Wieck, der, als er den Russen in die Hände fiel, ins Konzentrationslager Rothenstein gesperrt wurde.
Selbst wenn man schon öfter über die Zustände in diesen Lagern gelesen hat, so sind die Schilderungen des Königsbergers besonders eindringlich. Noch schrecklicher sind jedoch seine Beschreibungen der Lebensumstände nach seiner Freilassung im völlig zerstörten Königsberg. Von 130000 Deutschen, die den Zweiten Weltkrieg in der Stadt überlebt hatten, starben seiner Meinung sogar mehr als die stets behaupteten 80 Prozent. Krankheit, Hunger, Kälte, Willkür der Sowjets – die Gründe, sein Leben auch nach Kriegsende zu verlieren waren vielfältig, wie Wieck an zahlreichen Beispielen aufzeigt. So wie Hitler Deutschland von den Juden befreien wollte, so wollte Stalin Ostdeutschland von den Deutschen befreien, dessen ist sich der Autor sicher: „Nicht nur damals war Stalin für mich ein anderer Hitler.“
„Wie groß muß Hitze werden, bis man das Bewußtsein verliert?“ Dies ist nur eine von vielen Fragen, die der Ostpreuße hinsichtlich der Unglaublichkeit des von ihm Erlebten immer wieder stellt. Er will mit seinen Erinnerungen auch viele Tote beim Namen nennen, nennt Mitschüler, Nachbarn, entfernte Bekannte, die gewaltsam aus dem Leben gerissen wurden. Wieck erinnert sich daran, als er von den Russen dazu eingesetzt wurde, die mit Leichen übersäten Straßen der zerstörten Stadt zu säubern, indem er die häufig stark entstellten Körper zu Bombentrichtern schleppen mußte, um diese mit den Leichen zu füllen. „,Friedhof‘ Königsberg“ hat er eines der Kapitel benannt.
Doch auch als der Autor 1948 endlich in den Westen Deutschlands durfte, mußte er einige Enttäuschungen hinnehmen. So benutzte das Fernsehen der sowjetisch besetzten Zone seine prominenten, über 60jährigen Eltern als Beweis dafür, daß auch alte Menschen die sowjetische Besatzung Ostdeutschlands überleben konnten, dabei waren die Wiecks die einzigen alten Leute, die mit dem Transport aus ihrer geraubten Heimat rausgekommen waren. Auch mußte der gerade 20jährige mitansehen, wie sich sein Vater nur Wochen nach der gemeinsamen Rettung von der Familie lossagte und eine ehemalige Studentin heiratete: Schon lange hatte er seiner jüdischen Frau und dem gemeinsamen Sohn die mit ihrer Abstammung verbundenen Einschränkungen während der Zeit der Nationalsozialisten übelgenommen, und er gab ihnen Schuld an seinem ganzen Elend.
„Wer heute nach Kaliningrad fährt, darf nicht Königsberg zu finden hoffen. Königsberg überlebte den letzten Krieg leider nicht …“, schreibt Wieck in einer der vorangegangenen Auflagen enthaltenen Nachwort aus dem Jahre 1992. In dem für 2005 vorgesehenen Nachwort äußert sich der abermals in seine Geburtsstadt Gereiste aber schon positiv über die Entwicklungen in der Pregelmetropole und äußert die Hoffnung, daß die Ideen Kants in seiner Heimatstadt doch noch neuen Boden finden werden. Fritz Hegelmann
´Michael Wieck: „Zeugnis vom Untergang Königsbergs – Ein ,Geltungsjude‘ berichtet“, Verlag C. H. Beck, München 2005, broschiert, 404 Seiten, 14,90 Euro |
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