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Wenn ein Mitmensch vorgibt, Stimmen zu hören von Gestalten, die gar nicht existieren, machen wir uns Sorgen. Je nach Gusto empfehlen wir einen Psychiater oder bestellen ein "Medium" ins Haus, das Kontakt aufnehmen soll zu dem mysteriösen Schattenwesen, das auf den Freund einbrabbelt.
In den Berliner Fluren von Parlament und Regierung irrlichtert seit längerem ein solcher Flattergeist, der unsere Politiker mit mal weniger, mal mehr Penetranz durch die Gänge scheucht. Derzeit dröhnt ihnen die gespenstische Stimme besonders gellend ins Ohr.
Wie andere Opfer solcher Phantasien geben auch die Berliner ihrem Quälgeist einen Namen: Sie nennen ihn "die Staatengemeinschaft". Die hat noch nie jemand gesehen, sie hat kein Gesicht, keine Adresse irgendwo auf der Welt, keine Armee, keine Regierung, kein Land, kein Geld. Früher dachte man mal, "die Staatengemeinschaft" sei sowas wie der Vorname der Uno. Stimmt aber nicht. Uno-Generalsekretär Kofi Annan faselt selbst unablässig von ihr wie von einem fremden Überwesen, an das er täglich "appellieren" muß, was er ja nicht nötig hätte, wenn es sich um seine eigene Organisation handelte.
Kurz: "Die Staatengemeinschaft" ist pure Einbildung. Doch gerade wegen ihrer Unfaßbarkeit erscheint sie den Führern unseres Landes um so gewaltiger, wie eine unentrinnbare Herrin, die ihnen laufend Beine macht: "Die Staatengemeinschaft verlangt von Deutschland mehr Verantwortung!" "Die Staatengemeinschaft kann nicht länger zusehen!" "Die Staatengemeinschaft fordert ein Ende des Blutvergießens!"
Die dämonische Suggestionskraft dieses seltsamen Geisterkultes geht soweit, daß die ersten schon begonnen haben, die Erscheinung für ein reales Wesen zu halten, zu dem man hingehen und mit ihm Kaffee trinken kann: "Ich werde mich an die Staatengemeinschaft wenden!"
Nur naive Menschen mögen meinen, daß man spätestens hier therapeutisch einhaken könnte, indem man den Befallenen nach dem vermeintlichen Besuch bei "der Staatengemeinschaft" keck fragt, wo er denn nun konkret gewesen sei.
Das können Sie gleich vergessen: Entweder wird der Besessene die Frage nicht verstehen oder sie gar für eine üble Gemeinheit halten, oder er wird eine kunstvolle Geschichte konstruieren.
Wie immer bei solch trüben Kulten drängeln sich natürlich korrupte Gurus in den Vordergrund, die den Glauben der kleinen Idioten schamlos für ihre Ziele ausnutzen: "Meine Politik dient den Interessen der Staatengemeinschaft!" Steht die Allerheiligste erstmal im Raum, wagt keiner mehr zu fragen, wem der Käse wirklich etwas bringt.
Allerdings sollte man über den Glauben von Menschen nicht fahrlässig herziehen, auch wenn er mit Religion, wie wir sie kennen, wenig zu tun hat und mit weltlicher Realität schon gar nichts.
Im Fernsehen haben wir uns diese interessanten Exoten angeguckt, Fakire genannt, glaube ich, die sich mit Hilfe ihrer Geister in Trance versetzen und dann über glühende Kohlen gehen oder sich lange, entsetzlich dicke Nadeln durch die Wangen schieben, ohne zu bluten. Sie verhöhnen die Wirklichkeit und, siehe da: Das, was eigentlich geschehen müßte, Blut und Brandblasen, passiert auch nicht!
Tief durchdrungen vom Glauben an "die Staatengemeinschaft" sind deutsche Politiker zu noch viel beeindruckenderen Taten aufgelegt. Sie fassen ernsthaft ins Auge, Armeen um die Welt zu schicken, über die sie gar nicht mehr verfügen. Obwohl es im Kongo nicht einmal mehr für ausreichend Latrinen reicht (wir berichteten) und die Demokratieverteidiger am Hindukusch ihre Feldstecher im Tschiboladen kaufen mußten, drängt es immer mehr Regierungspolitiker nun, ihre imaginierten Heerscharen über den Libanon kommen zu lassen.
Einige hat scheinbar echter Furor gepackt, wie er einst die germanischen Krieger überkam, wenn sie sich durch lautes Getöse vor der Schlacht in "Berserker" verwandelten. Der CDU-Europa-Abgeordnete Elmar Brok will ein "robustes Mandat", damit EU-Truppen da unten mal "richtig dazwischengehen" können. Jawoll! Den Fellachen mal ordentlich eins auf die Zwölf! Hat er sie noch alle? Hat er, wie wir später sehen werden.
Verteidigungsminister Jung war indes mal kurz kalt duschen, das muß so gegen Montagmittag gewesen sein. Morgens konnte auch er es gar nicht mehr abwarten, am Sandkasten Platz zu nehmen, um seine eingebildeten frischen Truppen vorrücken zu lassen. Dann aber muß ihn für einen Moment die Wirklichkeit eiskalt über den Rücken gelaufen sein. Es ging ihm wie dem Fakir, der mitten auf der Bahn für eine Sekunde realisiert, wie heiß die Kohlen sind. Dann fängt er an zu schwitzen und muß hierauf einige Wochen auf Watte gehen oder liegen.
Jung durchfuhr der Blitz der Erkenntnis, daß er für den Einsatz in der Levante weder Soldaten noch Ausrüstung frei hat. Vielleicht war es auch der Anruf eines höheren Militärs. Am Montagabend jedenfalls flehte der verunsicherte Wehrminister, doch erst einmal die friedlichen Möglichkeiten auszuschöpfen, bevor man ihn nach Soldaten fragt, mit anderen Worten: "Oh möge dieser Kelch an mir vorübergehen!"
Dem dürfte entsprochen werden. Erstens sind die "friedlichen Möglichkeiten" in Nahost traditionell begrenzt und zweitens haben sich mittlerweile allerhand Mächte um den Krisenherd versammelt, denen die Einwände so schnell nicht ausgehen werden. Dem Ort des Geschehens angemessen wird geschachert wie auf einem levantinischen Basar: Die USA wollen erst die israelischen Soldaten frei haben, dann könne man über Waffenstillstand reden. Frankreich will erst den Waffenstillstand, dann könne man ja über alles mögliche verhandeln. Berlin, durch diese erschreckend konkreten Vorstöße aus seiner "Staatengemeinschafts"-Séance gerissen, kann sich nicht entscheiden und nickt beiden freundlich zu.
Und Rußland? Putin verhält sich selbst wie ein dampfendes Orakel. Ja, man wolle schon richtig mitmischen, versichert Moskau, sagt aber nicht wie, mit wem und unter wessen Oberbefehl, falls es zur Truppenentsendung kommt.
Diese Unübersichtlichkeit, die dem Minister Jung eine Verschnaufpause erlaubt, ist für andere in Deutschland eine wahre Tortur. Entwicklungshilfeministerin Wieczorek-Zeul hat bei Christiansen geradezu verweifelt darauf hingewiesen, daß sie sich doch 1968 dazu entschlossen habe, für immer zu den Guten zu gehören. Sie hat nämlich die Vergangenheit bewältigt und die Juden dabei so fest in ihr Herz geschlossen, daß sie ihnen keinen selbständigen Schritt mehr erlauben kann. Auch nach dem x-ten Nahost-Krieg ist die Ministerin noch nicht fertig mit der Erfahrung, daß Nathan der Weise schießen gelernt hat. Deshalb kann sie jetzt gar nicht hinsehen und sieht tatsächlich auch nicht das Geringste.
So läßt sich das diskutierende Berlin von den krachenden Realitäten in Nahost wenigstens nicht davon abbringen, zuerst die wirklich wichtige Frage zu besprechen: unsere NS-Vergangenheit. Damit kann man mittlerweile das eine genauso gut begründen wie sein genaues Gegenteil. Ja, wir haben uns gekonnt eingewickelt in unsere "historischen Bezüge", daß sie uns schützen wie ein wunderbarer Kokon.
Elmar Brok, der so gern mal saftig loslegen möchte, nutzt das geschickt und wendet ein, daß bei einem EU-Truppen-Einsatz selbstredend keine deutschen Soldaten mitmachen dürften, weil das ja hieße, daß ein Deutscher möglicherweise auf einen Israeli schießen müßte. Deshalb müßten die anderen Europäer da runter. Wir könnten ja zum Ausgleich die moralische Verantwortung übernehmen. Ein paar Euro wären auch drin. Es ist schön, wie moralisch deutsche Politik angesichts "unserer Geschichte" geworden ist. |
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