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Herbstzeit ist Jagdzeit. Doch nicht immer sind es große Tiere, auf die zum Angriff geblasen wird. Und nicht immer findet die Jagd im Freien statt. Im Süden der Republik wurde gerade einem ganz kleinen Wurm der Gar-aus gemacht - hinter fest verschlossenen Türen.
Creglingens Herrgottskirche im Taubertal zählt zu Deutschlands Schatzkästchen mittelalterlicher Kunst und rangiert damit ganz oben unter den Perlen an der Romantischen Straße. Stifter der Kapelle waren die Herren von Hohenlohe-Brauneck, welche die Kapelle von 1384 bis 1389 genau an der Stelle erbauen ließen, wo ein Bauer beim Pflügen eine unversehrte Hostie auf seinem Acker entdeckt hatte.
Die Wunderwirkung des kleinen, hauchdünnen Weizengebäcks ließ Papst Bonifaz IX. fünf Jahre später einen Ablaßbrief ausstellen, der das Kirchlein derart ins Rampenlicht rückte, daß - wenn die Angaben in alten Kirchenbüchern stimmen - oftmals bis zu 14 Geistliche gleichzeitig die Kommunion austeilen mußten. Waren es einst Scharen von Wallfahrern, die es in die Nachbargemeinde von Rothenburg ob der Tauber zog, sind es heute Touristen aus der ganzen Welt. Heilsame Wunder erwartet niemand mehr. Wohl aber Wunder menschlicher Kunst, wie sie die vollständig erhaltene alte Ausstattung präsentiert. Dabei fällt der Blick nicht zuerst auf den Hochaltar, den man der Schule des Veit Stoß oder neuerlich auch Erasmus Grasser zuschreibt, sondern auf ein Schnitzwunder mitten im Kirchenschiff, geschaffen von dem grandiosen spätgotischen Bildhauer Tilman Riemenschneider. Es gibt sicherlich kein vergleichbares Werk, das die Himmelfahrt der Gottesmutter so nachfühlsam darstellt wie sein um 1510 entstandener 9,20 Meter hoher und 3,70 Meter breiter Marienaltar. Damit das so bleibt, hat die Gemeinde sich zu einer spektakulären Rettungsaktion entschlossen. Denn an den beiden Seitenaltären mit den großartigen Flügelmalereien von Jakob Mülholzer aus Bad Windsheim sowie dem Chorgestühl und der Kanzel hatte der Holzwurm begonnen, genüßlich zu nagen. Das Riemenschneider-Werk zeigte zwar noch keine neueren Holzwurmspuren. Aber da das wurmbefallene Kirchengestühl nicht weit entfernt steht, war dessen Appetit auf den Marienaltar absehbar. Welch Jammer wäre es doch, wenn dieses Hauptwerk deutscher Kunst letzt-endlich einem gefräßigen Wurm zum Opfer fiele, nachdem es auf wundersame Weise 300 Jahre lang allen Zerstörungen getrotzt hatte. Als 1530 die Reformation in Creglingen einzog, hatte man den Altar kur-zerhand zugeklappt und hinter einem Bretterverschlag verborgen. So entging er dem Wüten der Bilderstürmer, die es besonders auf alles abgesehen hatten, was zu katholisch schien. Seitdem hing die Gemeinde ihre Totenkränze daran auf und irgendwann erinnerte sich niemand mehr an den Altaraufsatz.
Erst 1832 kam der damalige Kirchenpfleger Michael Dreher auf die Idee, wieder hinter die Bretter zu schauen. Vielleicht war es genauso ein Zufall wie die Entdekkung der Grabplatte Tilmann Riemenschneiders bei Straßenbauarbeiten in Würzburg zehn Jahre zuvor. Auch der 1531 verstorbene Künstler war längst in Vergessenheit geraten gewesen. Der wiedergefundene Grabstein brachte - im Vergleich - noch eine weitere Enthüllung: Im Sockel des Marienaltars wurde das Selbstporträt des main-fränkischen Meisters offenbar.
Nun ist die Jagd auf die Holzfresser durch Begasung hinter fest verschlossenen Türen zu Ende gegangen. Allerdings ohne Trophäen, da die Tiere zur letzten Ruhe in den Kunstwerken verbleiben. Somit sind Riemenschneiders einzigartigen Apostelporträts zu Füßen der auf ewig jugendlichen Maria wieder ungefährdet zu bewundern.
Öffnungszeiten der Herrgottskirche: 2. November bis 31. März dienstags bis sonntags von 10 bis 12 und von 13 bis 16 Uhr, sonst täglich von 9.15 Uhr bis 17.30 Uhr. |
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