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Rund 40 Millionen Franzosen bekommen in diesen Tagen Post von Jacques Chirac. Der französische Präsident fordert die Wähler ganz offiziell auf, ihre Stimme bei dem Referendum über die EU-Verfassung abzugeben. Die Frage, zu der die Franzosen ja oder nein sagen sollen, lautet: "Stimmen Sie dem Gesetzentwurf zu, der es erlaubt, den Vertrag über eine Konstitution für Europa zu ratifizieren?" Mit im großen Umschlag liegen zwei kleine Zettel, einer mit Ja beschriftet, der andere mit Nein und zusätzlich der gesamte Text der Verfassung, einschließlich der 50 Zusatzprotokolle.
Die Regierung Chirac läßt es an nichts fehlen. Jeder Bürger soll wissen, wofür oder wogegen er stimmt. Natürlich werden nur die wenigsten den ganzen langen Text lesen wollen. Die Bedeutung des Juristenlateins ist auch kaum zu durchschauen. In der nun begonnenen heißen Phase spielt Europa nach wie vor nur die Rolle des Resonanzbodens für eine innenpolitische Auseinandersetzung, die sich am besten als Kampf der Häuptlinge charakterisieren läßt. Anhand des Referendums lassen sich in beiden Lagern die Chancen für die Anwärter auf die Präsidentschaft ausmachen. So kann Innenminister de Villepin es als Pluspunkt werten, wenn der Präsident ihn als einziges Mitglied der Regierung lobend erwähnt. Allen ist klar, daß Chirac seinen Günstling de Villepin seinem heimlichen Rivalen Sarkozy vorziehen würde. Bis letzte Woche war fast Panik im Elysee aufgekommen, weil die Umfragen beständig einen Sieg des "Nein" voraussagten.
Nun aber ist das Aufatmen im Elysee deutlich zu vernehmen. Denn endlich hat ein namhaftes Umfrage-Institut eine wenn auch knappe Mehrheit der Franzosen für die EU-Verfassung ergeben. Zwar veröffentlichte gleichzeitig ein anderes, ebenso namhaftes, das Gegenteil. Aber das Signal für Chirac und die Regierung ist: Die Sache ist noch nicht aussichtslos, wir kämpfen weiter und werden das Referendum notfalls wiederholen. Auf keinen Fall wird man sich in Paris selber in Frage stellen und nach den Gründen forschen, warum so viele Franzosen den Europakurs von Chirac und Co. mißbilligen. Und im Aufwind der Trendwende konnte Chirac auch bei einem Fernsehinterview wieder punkten und auch wieder etwas glaubwürdiger die Thematik Europa verkünden. Er tat es, indem er das nationale Interesse in einen europäischen Rahmen bettete. Die EU-Verfassung verbinde die Erfordernisse eines großen Marktes mit der dazu gehörigen sozialen Harmonisierung und sei somit die bestmögliche Lösung für Frankreich, ja, die EU-Verfassung enthalte das Erbe der Französischen Revolution und sei "eine Tochter von 1789".
Das stimmt insofern, als diese Verfassung das christliche Erbe Europas ziemlich verleugnet und laizistisch daherkommt. Deshalb stimmen auch so viele Sozialisten für diesen Entwurf. Selbst der frühere Ministerpräsident Lionel Jospin meldete sich aus dem selbstgewählten inneren politischen Exil zurück und sprach sich mit Eifer für die Verfassung aus. Sofort knüpften sich an diese Intervention heiße Spekulationen über eine Rückkehr Jospins auf die politische Bühne. Wahrscheinlich wäre ein großer Teil der Links-Wähler darüber ganz froh. Der jetzige Chef der Sozialisten, Francois Hollande, hat sich in der Referendumsfrage blaß und führungsschwach gezeigt, das linke Lager ist zerfallen. Chef der Neinsager ist Fabius, der über das Referendum die Führung der Linken und damit die Kandidatur dieses Lagers für die Präsidentschaftswahlen in zwei Jahren erringen will. Auch das zeigt: Es geht eigentlich gar nicht um die Verfassung. Es geht um die künftige Macht in Frankreich.
Für die Befürworter eines "Nein" ist das Referendum in diesem Sinn auch eine Möglichkeit, der Regierung, insbesondere Chirac, einmal die Meinung zu sagen. Denn Chirac hat in Sachen Europa zwei schwere Fehler gemacht. Der erste bestand darin, das Türkei-Referendum weit in die Zukunft, also wenn Chirac schon längst nicht mehr Präsident sein wird, zu legen und somit den Volkswillen zu mißachten. Hätte er dieses Jahr das Referendum über die Verfassung und nächstes Jahr - also während seiner Amtszeit - ein weiteres über eine mögliche Mitgliedschaft der Türkei anberaumt, die Bürger hätten die Verfassung glatt passieren lassen im Wissen darum, daß sie Chiracs orientalische Liebschaft im nächsten Jahr hätten abweisen können. Der zweite Fehler bestand darin, den deutschen Kanzler Schröder gegen die eigenen Landsleute in Stellung zu bringen nach dem Motto: Herr Nachbar, erziehen Sie doch bitte mal meine Kinder. Das vertragen die eigenwilligen Franzosen nicht. Das löckt den Stachel des Asterix-Komplexes. Überhaupt Schröder. Vielen Franzosen sind die vielen Umarmungen Chiracs mit Schröder suspekt. Ein Mann, der so wenig außenpolitische Fortune und handwerkliches Geschick aufweist, der ist kein Garant für die Unabhängigkeit Europas.
Chirac könnte dennoch Glück haben. Denn viele Franzosen gerade aus dem bürgerlichen Lager, die ihm nun eins auswischen wollen, ohne gleich die Regierung zu wechseln, zögern trotzdem vor einem "Nein" zur Verfassung. Mit diesem "Nein" befänden sie sich im selben Lager wie die Extremisten von links und rechts, und davor schrecken sie zurück. Deshalb ist damit zu rechnen, daß die Zahl der Enthaltungen sehr hoch sein wird. Und das wiederum wäre für die Regierung ein Argument, das Referendum zu wiederholen, sollte es tatsächlich doch noch mit einem "Nein" enden. Bei einer Wiederholung aber dürfte es ein Ja werden, weil Chirac zuvor "abgewatscht" wurde.
Das mögen alles sachfremde Gründe sein. Aber so ist die Politik in Europa. Beispiel Deutschland: Wer glaubt denn Müntefering, daß er die Kapitalismus-Debatte ohne Blick auf die Wahl in Nordrhein-Westfalen losgetreten habe? Schon lange ist in Frankreich ein Unbehagen am Europa der Technokraten und des bürgerfernen Establishments in Brüssel und auch in Paris und Berlin zu spüren. Ganz abgesehen davon, daß in einer Zeit der religiösen Renaissance diese Verfassung ohne Gottesbezug irgendwie künstlich wirkt. Ein geistiger Rahmen, der die Identifikation mit Europa ermöglicht, ist sie jedenfalls nicht. Und das wollen viele Franzosen auch zum Ausdruck bringen. |
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