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Grenze, deutsche Volksgruppen, Effekt der EU-Osterweiterung: all dies sind Themen, auf welche die Vertriebenen im vergangenen Jahrzehnt ihr Augenmerk besonders richteten, zumeist jedoch allein auf weiter Flur. In Deutschland sind sie außerhalb des Vertriebenenspektrums wohl nie je zusammenfassend unter einem geopolitischen Blickwinkel betrachtet worden. Es hat den Anschein, als sei den Deutschen in den letzten 50 Jahren gänzlich der Sinn für Geopolitik abhanden gekommen: Man nimmt auf diese Art gar nicht mehr wahr, merkt das auch nicht und vermisst dadurch nichts, ganz wie bei einem von Geburt an Blinden.
Zum Glück gibt es die Franzosen, die das noch immer können. Und zum Glück hat Gilles Lepesant, der am Warschauer Campus des Europa-Kollegs Brügge arbeitet, den Versuch unternommen, diese Themen einmal für die Deutschen monographisch zusammenzutragen. Sein Buch "Geopolitik der Ostgrenze n Deutschlands" betrachtet die Entwicklung der östlichen Grenzen, die gegenwärtige wirtschaftliche Zusammenarbeit sowie die Implikationen der EU-Osterweiterung.
Sehr interessant ist Teil 3 des Buches, wo die sudetendeutsche Frage, die deutschen Volksgruppen in den Oder-Neiße-Gebieten und in der Tschechei sowie die grenzüberschreitende Zusammenarbeit unter dem thematischen Dach "Labor der europäischen Integration" analysiert werden. Lepesant ist in erster Linie ein Stichwortgeber. Er stellt gerafft das sudetendeutsche Problem dar, wobei er jeweils kurz auf die Entschädigung der tschechischen Opfer des Nationalsozialismus und der Sudetendeutschen, die Benes-Dekrete, Rückkehr in die Heimat, Definitionsschwierigkeiten von "Vertreibung" und "Abschub" sowie die tschechisch-deutsche Erklärung eingeht. Stilistisch eher journalistisch als wissenschaftlich, kommt es allerdings kaum je zu einer Vertiefung und sind auch Belege zu sporadisch gestreut.
Wohl auf diese Weise schlichen sich vereinzelt kleinere Fehler ein (so liegt der deutsche Bevölkerungsanteil im Egerland über 4 Prozent, S. 134). Positiv zu vermerken ist indes die Auswertung deutscher Quellen, auch Vertriebenenzeitungen, was zu einem imponierend umfassenden Wissen über die Vertriebenenproblematik führte. Wenn man bedenkt, daß der Autor ein ausländischer Beobachter ist, kann man ihm schon dazu gratulieren, größeres Wissen zu besitzen als so mancher Inländer, der sich hierzu äußert.
Nur die Schlußfolgerungen Lepesants bleiben unscharf. Wo ist die versprochene Theorie der "Geopolitik der deutschen Ostgrenzen"? Die geopolitische Bedeutung der sudetendeutschen Frage besteht ja nicht nur darin, daß die Sudetendeutschen in Bayern einen Fürsprecher haben und Bayern auch sonst ein potentes Bundesland ist. So vereinfacht klingt es leider (S. 142ff.). Auch hätte man aus der Minderheitenfrage mehr machen können, da die wenig aussagekräftigen Fallstudien zur Lage in Pilsen und Stettin nur wenig über die Gesamt-Volksgruppen aussagen. Daß die Deutschen in Oberschlesien einen "friedlichen (Grenz-) Wandel" und Regionalautonomie anstreben, ist so nicht richtig und wird vom Autor auch nicht belegt. Bei der Aussage, daß nur 20 Prozent der Deutschen im Oppelner Land Deutsch beherrschten (S. 152), beruft er sich zwar auf eine BdV-Auskunft, doch das macht die Sache nicht richtiger.
Man wird aber Lepesants Buch nicht lesen, um etwas zur Thematik hinzuzulernen. Sein Reiz liegt in seinen Stichworten. Die Frage, in wieweit Euroregionen als "trojanische Pferde" der Vertriebenenverbände taugen (S. 165ff.) oder die Betrachtung der an Oder und Neiße geteilten Städte unter geopolitischen Aspekten (wer in der Bundesrepublik weiß überhaupt von geteilten Städten?) eignen sich exzellent als Ausgangspunkt für eine tiefgreifende wissenschaftliche Theorie wie auch als Denkanstöße für die "spin doctors" in den Vertriebenenverbänden. Nicht zuletzt stehen sie in der Tradition von Konzepten, die Herbert Czaja entwickelte.
Gilles Lepesant: Géopolitique des frontières orientales de lAllemagne. Les implications de lélargissement de lUnion européenne, Paris 2001.
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