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Chutzpah" meint in Jiddisch etwas zwischen "Frechheit" und "Unverschämtheit". Das Wort avancierte in Amerika sogar zum Modewort mit positivem Unterton, nämlich "Kühnheit". In diesem Sinne betitelte der umstrittene Harvard-Rechtsprofessor Alan Dershowitz, Strafverteidiger von O.J. Simpson (erfolgreich) und Mike Tyson (ohne Erfolg) seine Autobiographie "Chutzpah". Seine Nemesis heißt Norman Finkelstein, Professor für Politikwissenschaften an der DePaul University in Chicago .
Finkelstein ist Sohn von Holocaust-Überlebenden, die nach Amerika auswanderten, wuchs in New York auf und setzt sich seit seiner Dissertation für einen gerechten Ausgleich zwischen Israelis und Palästinensern ein. Zusammen mit Ruth Bettina Birn schrieb er das bedeutende Buch "A Nation on Trial" (1998), das die Thesen von Daniel Goldhagen vernichtend kritisierte, dann folgte sein Bestseller "Die Holocaust-Industrie" (Piper), in welchem er die pietätslose Kommerzialisierung des Leidens der Juden anprangerte. Nun rechnet er mit Dershowitz ab, dem führenden publizistischen Anwalt des Zionismus in Amerika. In neun Kapiteln und drei Anlagen beschäftigt sich Finkelstein vor allem mit Dershowitz Thesen in dessen Buch "The Case for Israel" (2003), das in Tausenden von Exemplaren vom israelischen Außenministerum gekauft und verteilt wurde. Der Titel der neuen Streitschrift Finkelsteins "Jenseits von Chutzpah" erklärt sich durch seine Empörung über den Versuch von Dershowitz, die Folterpraxis der israelischen und amerikanischen Militärs und Geheimdienste, die gezielten Tötungen von Palästinensern, den "collateral damage" und die Tötung tausender palästinensischer Zivilisten einschließlich Kindern (im Verhältnis von 20 palästinensischen auf ein israelisches Opfer), die Vertreibung von Hundertausenden Palästinensern seit 1947 und die Zerstörung ihrer Häuser zum Zwecke der Errichtung jüdischer Siedlungen beziehungsweise der Mauer zu rechtfertigen.
Ein Teil des Buches von Finkelstein besteht aus einer gründlichen Analyse und Widerlegung der Thesen von Dershowitz, und es gelingt ihm, eine Reihe eklatanter sachlicher Fehler und Manipulationen aufzuzeigen. Akribisch zeigt Finkelstein, wo Dershowitz Fakten verbiegt und was er verschweigt, und bezichtigt ihn, das inzwischen als unwissenschaftlich geltende Machwerk von Joan Peters "From time Immemorial" (1984) plagiiert zu haben.
Gewiß gibt das Derschowitz-Buch Anlaß zur Widerlegung, aber Finkelstein geht darüber hinaus, um dem Leser fundamentalere Fragen zu stellen. Schließlich geht es nicht um die intellektuelle Redlichkeit eines Harvard-Professors, sondern um den Frieden im Nahen Osten und um das Wissen und die Weisheit, die notwendig sind, um das Zusammenleben von Israelis und Palästinensern zu ermöglichen. Hierzu liefert Finkelstein eine Fülle belegbarer Fakten über die jüdische Siedlungspolitik seit der Balfour-Deklaration (1917), und jeweils nach der Peel Commission (1937), der UN-Teilungs-Resolution (1947), der Sicherheitsrat- Resolution 242 (1967), Camp David (2000), Taba (2001), sowie der ersten (1987-93) und zweiten ("Al-Aqsa") Intifada (seit 2000).
Finkelstein setzt sich für eine klare Abgrenzung zwischen einer legitimen Kritik an der Politik Israels und dem vulgären Rassismus ein. Er illustriert, wie der Vorwurf des Antisemitismus durch die amerikanischen Medien zum Zwecke der Einschüchterung in der politischen Auseinandersetzung instrumentalisiert wird, was die notwendige offene Diskussion über eine friedliche Lösung im Nahen Osten erheblich erschwert.
Nützlich erweisen sich Finkelsteins Auswertung der Jahresberichte von Amnesty International 1991 bis 1999 mit entsprechenden Zitaten zahlreicher Berichte von Human Rights Watch, Berichten der israelischen Nichtregierungs-organisation B Tselem, des UN-Sonderberichtserstatters für die Israelisch Besetzten Gebieten, des UN-Sonderberichterstatters für Folter sowie seine Hinweise auf die Diskussionen in Plenarsitzungen der Menschenrechtskommission.
Zu bedauern ist, daß Finkelstein die einschlägigen Berichte und Schlußfolgerungen des Menschenrechtsausschusses und des Ausschusses gegen die Folter der UN kaum berücksichtigt, auch nicht die Berichte des "Centers for Housing Rights and Evictions (COHRE)", die seine Argumente noch weiter untermauern würden. Eine Diskussion der "Geneva Initiative" von 2003 und der "Roadmap" des Quartetts hätte die Analyse abgerundet. Zwar fehlt ein Literaturverzeichnis, doch sind alle Quellen in den mehr als 500 ausführlichen Fußnoten zu finden.
Die bisherigen Rezensionen des vorliegenden Buches sind überwiegend anerkennend. Bislang sind die von ihm angeführten Fakten von keiner Seite widerlegt oder seine wissenschaftliche Methodologie entkräftet worden. Die Kritik ist ad hominem gerichtet. Er wird als "Verräter" und Anti-Zionist bezeichnet. Dies stört Finkelstein ebenso wenig wie der Vorwurf, daß er "Beifall von der falschen Seite" bekomme. Eigentlich wendet er diesen Vorwurf gegen seine Kritiker um, wenn er betont, er schreibe vor allem deswegen, weil die "gute Seite" es versäumt habe, die entscheidenden Fragen zu stellen.
Finkelstein protestiert nämlich gegen die lähmende politische Korrektheit in den amerikanischen Universitäten, und es gelingt ihm, fundamentale Probleme des Zeitgeistes zu verdeutlichen. Wie kommt es, daß wissenschaftlich fehlerhafte Bücher wie jene von Peters, Goldhagen und Der-showitz Bestseller werden können. Zweitens, wie sich Professoren an berühmten Universitäten nicht nur wissenschaftliche Manipulationen, sondern auch Plagiate ohne Konsequenzen leisten können. Drittens, wie ist es möglich, daß trotz der kritischen Beurteilung durch unabhängige seriöse Beobachter der menschenrechtlichen Lage in Israel und den besetzten Gebieten die politische Führung Amerikas die gebotenen Schlußfolgerungen ignoriert und die faktische Kolonisierung Palästinas durch israelische Siedler deckt und finanziert, einschließlich der berüchtigten Trennungs-Mauer. Viertens, warum kann Israel permanent gegen etliche Resolutionen der Vereinten Nationen und sogar gegen die Advisory Opinion des Internationalen Gerichtshofes vom 9. Juli 2004 mit völliger Straflosigkeit verstoßen?
Es lohnt sich, dieses Buch durchzulesen und darüber nachzudenken, welche Konsequenzen für den politischen Alltag notwendig sind, insbesondere in der Menschenrechtspolitik der EU. In der Tradition seines Mentors Noam Chomsky, mahnt uns Finkelstein, unsere Prinzipien ohne doppelte Moral zu behaupten. Alfred de Zayas
Norman G. Finkelstein: "Antisemitismus als politische Waffe - Israel, Amerika und der Mißbrauch der Geschichte", Piper, München 2006, geb., 400 Seiten, 19,90 Euro |
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