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Entfesselter Antisemitismus - der Vorwurf traf Frankreich in Mark und Bein und hallt immer noch nach. In Interviews und Kommentaren versucht sich die republikanische Intelligentsia freizureden. Zuletzt erklärte der Senator, Ex-Justizminister Mitterrands und ehemalige Vorsitzende des Verfassungsrates Robert Badinter in der Zeitung Le Monde, dieser Vorwurf des israelischen Premierministers sei "in besonderer Weise verletzend". Auch wenn die Zunahme antisemitischer Gewaltakte "extrem schmerzhaft" sei, Frankreich sei nicht antisemitisch. Das zeige schon die geringe Zahl an Auswanderung
en französischer Juden nach Israel, zu der Sharon jetzt aufgerufen habe.

Badinter übt den republikanischen Reflex, der auch bei bürgerlichen Politikern zu beobachten ist. Antisemitismus, das würde ja bedeuten, daß in Frankreich eine Gruppe besonders loyaler Bürger weder frei, noch gleich, noch brüderlich behandelt werde. Und das darf nicht sein. Aber hier kollidiert die gute Absicht und Gesinnung mit den Tatsachen. Seit vier Jahren ist - nach Angaben des Innenministeriums - die Zahl antisemitischer Gewalttaten von zehn pro Jahr auf über 100 gestiegen. 80 Prozent aller rassistischen Gewaltakte in Frankreich (Korsika ausgenommen) sind antisemitisch. Rund 20 Synagogen, jüdische Schulen und Gemeindeeinrichtungen wurden in Brand gesetzt und zerstört. Jüdische Jugendliche wurden offen angegriffen, Haßparolen (Tod den Juden!) sind auf Demonstrationen propalästinensischer oder linksradikaler Gruppen zu hören, eindeutig antisemitische Bücher werden von bekannten Verlagen (Flammarion, Laffont, Stock) auf den Markt gebracht, vor allem in Schulen und Universitäten werden von Eltern, Lehrern und Studenten historische Tatsachen offen angefochten und in Zweifel gezogen, sobald Israel, der Holocaust oder das Judentum ganz allgemein thematisiert werden. Die Liste ließe sich verlängern. Alarmierend ist nicht nur die Zahl der Übergriffe. Daß jüdische Gebäude, insbesondere Synagogen, zerstört wurden, hat es seit dem Mittelalter nicht mehr gegeben. Die einzige Ausnahme ist die Zerstörung der großen Synagoge in Straßburg im Jahr 1940, als die Stadt und Elsaß-Lothringen dem Deutschen Reich einverleibt wurden. Selbst unter der Besatzung und während des Vichy-Regimes oder auch auf dem Höhepunkt der Dreyfuss-Affäre wurden Synagogen und andere jüdische Gebäude von der Verfolgung ausgespart. Es ist durchaus eine Situation entstanden, die man aus Sicht der französischen Juden und mit Blick auf ihre Geschichte als "entfesselter Antisemitismus" bezeichnen kann.

Die politische Klasse ist verunsichert und die geradezu hysterische Reaktion der Parteien und Politiker bis hin zum Präsidenten auf die falsche Anzeige einer jungen Frau (sie sei im Vorstadtzug mit ihrem Baby von sechs arabisch sprechenden Jugendlichen malträtiert worden) zeigt, daß die Nerven bei diesem Thema blank liegen. Immerhin gesteht auch Badinter sozusagen stellvertretend für die politische Klasse ein, daß man es zu tun habe mit "einem Antizionismus, der sich, von einem radikalen Islamismus genährt, in Antisemitismus gewandelt hat. Es ist besorgniserregend zu sehen, wie alte antisemitische Mythen Europas, wie die Protokolle der Weisen von Zion, eine Fälschung der Geheimpolizei des Zaren, später benutzt von Göbbels, nun für den Judenhaß der Islamisten neu aufgegriffen werden".

Badinters Bedauern ist de facto eine Selbstanklage. Vor allem in der Zeit der sozialistischen Regierung Jospin bis 2002 wurden die Fesseln des Antisemitismus gelöst. Der damalige Innenminister Daniel Vaillant ließ die Dinge treiben und als Ende April in der Nationalversammlung ein sozialistischer Abgeordneter den Nachfolger Vaillants, Nicolas Sarkozy, heftig angriff, weil dieser bei einem Besuch in Washington eine Einladung des Jüdisch-Amerikanischen Komitees angenommen hatte und damit angeblich in die Außenpolitik des Staatspräsidenten eingegriffen habe, wies Sarkozy genau darauf hin: Unter den Sozialisten habe sich die Situation der Juden in Frankreich erheblich verschlechtert und damit auch das Bild Frankreichs in der Welt. Daraufhin verließ die gesamte sozialistische Fraktion den Plenarsaal. Auch hier wieder: Beim Thema Antisemitismus liegen die Nerven blank.

Frankreich ist das Land mit den meisten Juden in der EU, die Zahlen liegen zwischen 600.000 und 800.000. Aber es gibt zehnmal so viel Muslime in Frankreich. Die meisten kommen aus Nordafrika, mindestens die Hälfte ist eingebürgert, also wahlberechtigt. Es ist für Politiker ein Wagnis, offen die Wahrheit zu sagen, daß vor allem diese Bevölkerungsgruppe für die "Entfesselung" des Antisemitismus in Frankreich verantwortlich ist. Dem Wagnis entspricht auch die Zurück-haltung der Politiker, wenn es darum geht, an Demonstrationen gegen den Antisemitismus teilzunehmen. Dabei haben sich die jüdischen Organisationen bisher überaus fair und sachlich verhalten. Sie haben Wachmannschaften zum Schutz ihrer Schulen und Gebäude eingestellt, haben wissenschaftliche Gutachten anhand offizieller Daten erarbeiten lassen und die Regierung früh auf die Problematik aufmerksam gemacht. Ein neues Gesetz gegen Rassismus und antisemitische Gewalt, das nach dem Pariser Abgeordneten Pierre Lellouche von der Präsidentenpartei UMP benannte "Lellouche-Gesetz", wurde auf den Weg gebracht. Aber von solchen Einzelerfolgen abgesehen, ist es bei der Zurückhaltung der Politik geblieben. Sie hat auch zu tun mit der traditionell proarabischen Außenpolitik der Gaullisten, insbesondere Chiracs.

Dennoch ist im Moment kaum mit einer größeren Auswanderung französischer Juden nach Israel zu rechnen. Jährlich machen sich gut 2.000 Juden für diese Aliya (aus dem Hebräischen für "Aufstieg" nach Jerusalem) auf den Weg. In den 70er Jahren waren es 20.000, in den 80er und 90er Jahren immer noch 10.000 pro Jahr. Von einer massiven Auswanderung konnte man eigentlich nie sprechen. Dagegen nimmt die Einwanderung von Muslimen aus Nordafrika trotz restriktiver Maßnahmen durchaus massive Züge an. Ihre Zahl ist in den letzten fünf Jahren, besonders um die Jahrtausendwende, um mehr als eine Million gestiegen. Und die Muslime vermehren sich weitaus schneller als jede andere Gruppe in Frankreich. Die internen demographischen Verschiebungen werden das Problem des Antisemitismus verschärfen. Denn nach allen Erkenntnissen der letzten 50 Jahre - übrigens auch in Deutschland - sind die Muslime kaum integrierbar und integrationswillig.

Die Französische Republik wird sich zu entscheiden haben: Entweder sie läßt den Islam gewähren, mithin den Antisemitismus weiter ausgreifen, und verkauft damit für eine Handvoll Stimmen ihre Seele oder sie geht entschlossen gegen die Islamisten und deren intoleranten Ghetto-Gesetze vor, was zur politischen Konfrontation und möglicherweise auch zu Gewalt führen kann. Entweder sie setzt ihre Prinzipien Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit durch, was in unsere Zeit übersetzt Toleranz, Gleichberechtigung und Religionsfreiheit bedeutet, oder sie beugt sich langfristig und scheibchenweise den Gesetzen der Scharia und der Gewalt. Hier steht langfristig, und das heißt innerhalb der nächsten zwei Jahrzehnte, wegen der demographischen Veränderungen auch das demokratische Prinzip auf dem Prüfstand: kritische Masse statt Qualität der Kritik. Das Bewußtsein wächst, daß man es mit einer historischen Situation zu tun hat, die in ihrer Dramatik durchaus vergleichbar ist mit der Situation vor der Schlacht zwischen Tours und Poitiers im Jahr 732. Damals wurde der Angriff der Muslime abgewehrt. Heute sind sie bereits innerhalb der Mauern, und entweder sie beugen sich den Gesetzen der Republik oder es kommt zu Auseinandersetzungen. In anderen Ländern, ganz stark zum Beispiel in Belgien, greift der Islam noch stärker um sich als in Frankreich. Manche Politiker sehen das Aufflammen des Antisemitismus in Frankreich deshalb auch schon - durchaus zu Recht - als Teil des globalen Ringens im islamistisch-terroristischen Krieg. Die Nachbarn Frankreichs sollten das Phänomen nicht einfach als französische Angelegenheit abtun. Der Antisemitismus in Frankreich ist nur die Spitze eines Eisbergs, der sich unter ganz Europa ausdehnt und die Zivilisation des alten Kontinents gefährdet.

 
     
     
 
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