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Kein ökonomischer Niemand

 
     
 
Schon wieder so ein Krisenbuch, denkt man zunächst. "Deutschland - was nun?" lautet der Titel eines Sammelbandes, der "Reformen für Wirtschaft und Gesellschaft" schon im Untertitel verspricht. Die Krisenbücher haben ja etwas Leidiges an sich. Der Leser wird in der Regel auf den ersten 200 Seiten mit der ganzen Misere in Deutschland konfrontiert, so daß er sich am liebsten die Kugel geben würde. Doch wenn er so richtig suizidgefährdet ist, zaubern die Autoren solcher Werke meist die richtigen Reformrezepte aus dem Hut, mit dem unser Land wieder ganz nach vorn gebracht werden könnte. Das ist meistens alles gut, wahr und schön beziehungsweise schlecht, unwahr und schrecklich "neoliberal". "Die Botschaft hör ich gern, allein mir fehlt der Glaube", denkt so mancher beim Lesen, denn in Deutschland wird noch jede Reform zerredet und mit unübersichtlich
en Ausnahmen dekoriert.

Dieses Buch haben wir aufgeschlagen, weil der Herausgeber Klaus F. Zimmermann als Direktor des Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA Bonn) und zugleich Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsförderung (DIW Berlin) beileibe kein ökonomischer Niemand ist. Und auch die übrigen Beiträger wie Michael Hüther, Rüdiger Pohl, Bernd Raffelhüschen, Bert Rürup und Thomas Straubhaar sind nicht unbekannt in der Fach- und Medienwelt. In seiner Einleitung "Deutschland 2015: Die Zukunft gestalten!" macht Zimmermann ein paar Vorschläge, wie es seiner Meinung nach besser laufen könnte im Staate Deutschland. Eins ist klar: Deutschland steht erst am Anfang eines langen und schmerzhaften Reformprozesses, auch wenn die "unentschlossene Kanzlerin" (Kurt Kister) in vielen Fragen schon wieder zurückrudert. In diesem Land ist so viel über ökonomische Veränderungen gesprochen worden, daß wir alle schon gruselig gelitten haben; doch geschehen ist eigentlich nicht sehr viel. Im Wahlkampf übte Merkel noch radikale Reform-Rhetorik, jetzt baden sie und der auffällig unauffällige Wirtschaftsminister Michael Glos gern lau im trüben Teich der Neuen Sozialen Marktwirtschaft, die sich noch keiner so recht vorstellen kann. 58er-Regelgung, Abschwächung der Dienstleistungsrichtlinie, gesetzliche Mindestlöhne: Ludwig Erhard buchstabiert man anders.

Zimmermanns Forderungen hören sich allesamt vernünftig an. Er macht sich für Ganztagsbetreuung in Kindergärten und Schulen stark, die Einführung von Studiengebühren sowie die Abschaffung des Beamtenstatus für Lehrer und Hochschullehrer. Doch realistisch ist wohl nur der Ruf nach Studiengebühren. Der Beamtenstatus für Lehrer und Professoren dürfte erst dann kippen, wenn uns die gesamten Pensionszahlungen für diese privilegierte Kaste um die Ohren fliegen. Mit fast physischem Widerwillen registriert man das so unpreußische Besitzstandsdenken, das der aus dem Rheinland stammende Beamten-Lobbyist Peter Heesen an den Tag legt. Der Blick für die Realität scheint diesen Interessenvertretern abhanden gekommen zu sein, sonst würden Heesen und Co. wohl etwas mehr Demut an den Tag legen angesichts der Tatsache, daß die deutschen Beamten das Schicksal von fast fünf Millionen Bundesbürgern nie erleiden werden und von der Geißel Arbeitslosigkeit verschont bleiben.

Hilmar Schneider, seit 2001 Direktor für Arbeitsmarktpolitik am Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA Bonn), steuert zu eben jener Thematik einen vorzüglichen Aufsatz bei. Seine Sprache ist kraftvoll und klar, seine Reformvorschläge allesamt durchdacht und stringent. Natürlich werden sie den moralisierenden Sozialaposteln nicht gefallen. Man hört quasi schon das Heulen und Zähneklappern der Gewerkschaften, wenn sie mit der Tatsache konfrontiert werden, daß die großzügig ausgestaltete soziale Mindestsicherung dafür sorgt, daß Menschen mit einfachen Fähigkeiten aus dem Erwerbsleben herausgedrängt werden.

Schneider geht der Frage nach, warum Arbeit in Deutschland so teuer ist. Dies hat damit zu tun, daß die Rentenversicherung so teuer geworden ist. In Dänemark wird die Rente ausschließlich über die Steuer finanziert. Und in den meisten Ländern hat die gesetzliche Rentenversicherung nur noch die Funktion einer Basiseinkommenssicherung.

Vergeßt die aktive Arbeitsmarktpolitik, so lautet eine Botschaft. Mainzer Modelle, Minijobs, Personal-Service-Agenturen oder Ich-AGs sind schön und gut. Im besten Fall schaden sie nicht und kosten nur Geld. Den handelnden Personen in diesem Land fehlt es an echtem Zutrauen in die Kräfte des Marktes. Hilmar Schneider empfiehlt die Einführung des sogenannten "Workfare"-Konzepts. Dieser Begriff sei abgeleitet von der englischen Wortzusammenziehung "Welfare-to-Work", was so viel bedeute wie "Arbeit statt Sozialhilfe". Ein Anspruch auf die soziale Grundsicherung für Erwerbsfähige besteht nach diesem Modell nur noch dann, wenn dieser potentiell Erwerbsfähige dazu bereit ist, eine sozial nützliche Beschäftigung aufzunehmen. Es ist so einfach wie wahr: "Wenn für die Grundsicherung gearbeitet werden muß, ist jeder Job interessant, bei dem man mehr verdienen kann als in der Grundsicherung." Es ist natürlich abzusehen, daß weder Wähler noch Politiker den Mut zu solch unpopulären Maßnahmen haben werden. Daher wird aus "Angst vor der Narkose auf die lebensrettende Operation" verzichtet.

Klaus F. Zimmermann (Hrsg.): "Deutschland - was nun? Reformen für Wirtschaft und Gesellschaft", Beck im dtv, München 2006, 370 Seiten, 16 Euro
 
     
     
 
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