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Vor kurzem mußte auch der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge erfahren, wie der Nato-Krieg gegen Jugoslawien das ansonsten gute deutsch-russische Verhältnis belastet. Die für den 15. Mai geplante Einweihung des großen deutschen Soldatenfriedhofs in Rossoschka bei Wolgograd wurde von der Gebietsduma mit dem Hinweis auf die Beteiligung der Bundesrepublik an der Militärintervention untersagt.
Die Vorarbeiten für den wohl bedeutendsten deutschen Soldatenfriedhof in Rußland begannen im Mai 1992, kurz nach der Unterzeichnung des deutsch-russischen Kriegsgräberabkommens. Damals suchten Mitarbeiter des Umbettungsdienstes des Volksbundes im Raum Wolgograd nach Gräbern jener schätzungsweise 60 000 deutschen Soldaten, die im Kessel des damaligen Stalingrad gefallen waren. An über hundert Orten wurden sie fündig. Auf dem Gelände des in den Kämpfen zerstörten kleinen Dorfes Rossoschka unweit des zwischen November 1942 und Ende Januar 1943 zu trauriger Berühmtheit gelangten Luftwaffen-Flugplatzes Gumrak trug man die Gebeine zusammen. Hier befand sich bereits während des Krieges ein von der Wehrmacht angelegter Friedhof mit etwa 600 Gräbern.
In dem 30 Kilometer westlich von Wolgograd gelegenen Rossoschka hat der Volksbund nach der 1995 erfolgten Zustimmung der örtlichen Behörden und Veteranengruppen eine beeindruckende Ruhestätte für bisher ungefähr 20 000 Soldaten geschaffen, die zwischen Don und Wolga starben. Weitere knapp 20 000 Einbettungen sollen folgen.
Eine 470 Meter lange Ringmauer umgibt inmitten der Weite der russischen Steppe das neue Gräberfeld, das durch einen Weg mit dem gleichfalls von einer Granitmauer umgebenen alten Friedhof verbunden ist. An den Mauern sollen später die Namen sämtlicher in der Gegend gefallener bzw. vermißter deutschen Soldaten angebracht werden. Ein Hochkreuz überragt die Gedenkstätte, die nur durch eine Straße von einem 1997 errichteten russischen Soldatenfriedhof getrennt ist.
Was die offizielle russische Erinnerung an die grausamen Kämpfe um Stalingrad betrifft, so wird diese im wahrsten Sinne des Wortes von dem berühmten Denkmal der "Mutter Heimat" auf dem Mamajew-Hügel überragt. Mit einer Höhe von 50 Metern handelt es sich um das größte Kriegsdenkmal auf dem Boden der ehemaligen Sowjetunion. Bis heute pflegen Brautpaare am Grab des unbekannten Soldaten zu Füßen der "Mutter Heimat" Blumen niederzulegen.
Außerdem gibt es in der Region noch ein österreichisches Mahnmal zur Erinnerung an die Gefallenen der 6. Armee, das Mitte der 90er Jahre in Pestschanka errichtet wurde. Dieses etwa 40 Kilometer außerhalb Wolgograds gelegene und allein durch Spenden finanzierte Denkmal schließt allerdings keine Grabstätte ein. Des weiteren hat der ungarische Gräberdienst 1998 ein Gelände übereignet bekommen, auf dem ungarische Soldaten begraben liegen sollen. Für die ebenfalls auf deutscher Seite kämpfenden Rumänen, Kroaten, Italiener u. a. gibt es in Wolgograd bis heute keine Totengedenkstätte.
Zahlreiche Angehörige gefallener deutscher Stalingrad-Kämpfer wollten Mitte Mai bei der geplanten Eröffnungszeremonie dabeisein. Viele werden trotzdem an die Wolga kommen, zumal sie spezielle Reisen gebucht haben. Auch der Volksbund-Präsident Karl-Wilhelm Lange hält sich in diesen Tagen ungeachtet der offiziellen Absage in der südrussischen Millionenstadt auf. Unweigerlich rücken für alle diese Besucher nun andere Programmpunkte in den Mittelpunkt.
Das heutige Wolgograd ist ein sonderbares Gebilde. Wenn man mit dem Flugzeug von Moskau kommt und das Glück hat, aufgrund der Windverhältnisse vor der Landung noch eine Schleife über die Stadt zu drehen, so bietet sich folgendes Bild: Die Donsteppe reicht von Westen her bis etwa fünf Kilometer an die Wolga heran. Auf den wenigen Kilometern, die zwischen Steppe und Fluß liegen, erstreckt sich die bebaute Fläche. Wie ein Schlauch zieht sie sich über eine Strecke von hundert Kilometern an der Westseite des Stromes entlang. Auf der östlichen Seite der "Mutter aller russischen Flüsse" liegen dagegen nur einige wenige Dörfer.
Die Stadt wurde 1589 unter dem Namen "Zarizyn" als Vorposten in den südrussischen Steppengebieten gegründet, die das aufstrebende Moskowiterreich kurz zuvor den Mongolen entrissen hatte und deren freiheitsliebende Kosakenbevölkerung man mit Hilfe des Stützpunktes besser zu kontrollieren hoffte. Zur damaligen Zeit war ein Brückenbau über die Wassermassen der Wolga technisch unmöglich und aus militärstrategischen Gesichtspunkten wohl auch nicht gewollt, so daß sich die Stadt im Laufe ihrer Entwicklung nur am Westufer ausbreitete.
Als in den 1760er Jahren die Zarin Katharina II. in mehreren Manifesten deutsche Kolonisten ins Land rief, um verödete Landstriche neu zu besiedeln, zogen die ersten Siedler nicht nur in das Gebiet der späteren Wolgarepublik um die Städte Saratow und Engels, sondern gründeten auch 30 Kilometer südlich von Zarizyn das Dorf Sarepta.
Einst waren in der Herrnhuter-Kolonie Sarepta 30 verschiedene Handwerksarten vertreten. Berühmt wurde die Fertigung des "Sarpinka"-Stoffes, einer Mischung aus Seide, Baumwolle und Leinen, die sich in ganz Rußland großer Nachfrage erfreute. Auch entstand an der Mündung der kleinen Sarpa in die Wolga der erste Kurort Rußlands, nachdem 1768 der Arzt Johann Wier diverse Gesundbrunnen im nahegelegenen Ergenigebirge entdeckt hatte. Deutsche Missionare stellten in Sarepta zudem die erste überhaupt erschienene Grammatik der kalmückischen Sprache zusammen und verfaßten ein kalmückisch-deutsches Wörterbuch.
Nachdem 1941 auch die deutsche Bevölkerung Sareptas deportiert wurde, zeugen heute nur noch wenige Spuren von deren beeindruckenden kulturellen Leistungen. Immerhin gibt es seit 1990 wieder eine deutsche evangelisch-lutherische Gemeinde. Die alte Kirche und das ehemalige Vorsteherhaus wurden mit Geldern des Bonner Innenministeriums sowie der Evangelischen Landeskirche Berlin-Brandenburg aufwendig restauriert.
Der Aufenthalt an diesem Ort ist eine sinnvolle Ergänzung eines Besuchs der blutgetränkten Schlachtfelder von Stalingrad, vermag er doch noch mehr vom Ausmaß des Leidens anzudeuten, das durch den Zweiten Weltkrieg verursacht wurde an Russen wie an (Rußland-) Deutschen.
Man sollte, wenn man an diesem Fleckchen des riesigen Rußlands weilt, auch noch weiter zurückdenken: Nach der Oktoberrevolution war Zarizyn im Bürgerkrieg Frontstadt zwischen den "weißen" und "roten" Truppen. Die Verbände des "weißen" Generals Krasnow stießen vom Don kommend bis zur Wolga vor, ehe sie bei Zarizyn eine Niederlage erlitten. Da es angeblich der junge Volkskommissar Stalin war, der die Verteidigung der Stadt in "heroischer Weise" organisiert hatte, bekam diese in den 20er Jahren den Namen "Stalingrad".
Die heutige Bezeichnung "Wolgograd" wurde der im Zweiten Weltkrieg acht Monate lang heftig umkämpften und völlig zerstörten südrussischen Metropole schließlich im Jahre 1961 im Zuge der Entstalinisierung verliehen.
Nach wie vor spielen die chemische Industrie und der Maschinenbau eine wichtige Rolle, wenngleich die mangelnde Konkurrenzfähigkeit russischer Erzeugnisse auch hier ihre Spuren hinterläßt. Wolgograd ist zwar das industrielle Zentrum der Region, hat aber dennoch mehr Flair als viele andere Industriestädte des Landes. Dafür gibt es mehrere Gründe: An erster Stelle steht natürlich die Wolga, an deren Sandstränden es sich "wunderbar" fischen, grillen und baden läßt. Daß das Wasser ziemlich schmutzig ist, stört die örtliche Bevölkerung dabei offenbar überhaupt nicht. Ein Sonnenuntergang am Wolgastrand mit Schaschlik, Wodka und netten Leuten ist für sie eine unverzichtbare Möglichkeit, die Tristesse des Alltags für kurze Zeit zu vergessen.
Die schlauchartige Gestalt der Stadt bringt es mit sich, daß die Bebauung immer wieder von größeren Grünflächen unterbrochen wird. Dabei handelt es sich nicht nur um Gartenkolonien, sondern vielfach noch um Reste der ursprünglichen Vegetation, die ungestört vor sich hinwuchern kann. Auch die Häuser der Stadt sind nicht so einförmig, wie man es sich zunächst vielleicht vorstellt. Natürlich gibt es die typischen sozialistischen Plattenbausiedlungen, die von Halle bis Wladiwostok das Antlitz der Erde verunstalten. Dazwischen stehen aber immer wieder ganze Viertel mit Holzhäusern, wie sie ein Tourist eher auf dem Lande vermutet.
An einigen Punkten der Stadt trifft man auf die Villen der sogenannten "neuen Russen", jener superreichen kapitalistisch-mafiosen Oberschicht. Besonders hoch im Kurs stehen verschnörkelte Paläste, die mit ihren Türmchen und Giebelchen an Miniaturausgaben des Cinderella-Schlosses von Disneyland erinnern.
Das Zentrum Wolgograds überrascht durch seine ansprechende Architektur. Neben den öffentlichen Gebäuden wie dem Postamt, dem Theater, dem Bahnhof usw., die in Sowjetzeiten immer in pompösem Stil errichtet worden sind, zeichnen sich auch die normalen Wohnhäuser durch "bürgerliche" Stuckfassaden aus, die ebenso zu mitteleuropäischen Straßenzügen aus der Gründerzeit gehören könnten. Deutsche Kriegsgefangene mußten nach 1945 die Stadt, die die Wehrmacht in Schutt und Asche gelegt hatte, wieder aufbauen. Die solide Arbeit, die sie dabei leisteten, wird auch heute noch von den dort lebenden Russen geschätzt. Natürlich bröckeln auch in Wolgograd wie überall in Osteuropa die Fassaden, doch dafür, daß diese seit einem Jahrhundert nicht mehr renoviert wurden, sehen sie noch erstaunlich gut aus.
Überhaupt ist man als Deutscher in Wolgograd gut angesehen. Zum einen liegt das am 200jährigen Zusammenleben zwischen Russen und Wolgadeutschen, deren wirtschaftliche Leistungen von den Russen schon immer bewundert wurden. Zum anderen macht es gerade auf die Jungen, die den Krieg nicht mehr selbst erlebt haben, einen großen Eindruck, wie weit die Wehrmacht mit ihren begrenzten Mitteln in den Jahren 1941/42 gekommen ist.
Vor allem die logistische Überlegenheit der damaligen deutschen Armee wird neidlos anerkannt und gleichzeitig auf alle heutigen Deutschen übertragen.
Generell ist bei den Wolgogradern, quer durch alle Altersgruppen und Schichten, die Meinung vorherrschend, daß die Soldaten der Wehrmacht gute Soldaten waren, die auf Befehl in einen Krieg ziehen mußten, den sie nicht gewollt hatten, und daß selbstverständlich jeder deutsche Soldat so wie jeder Rotarmist auch in diesem Krieg das Beste für sein Land gegeben hat. Aus der Geschichte heraus heutigen jungen Deutschen einen Vorwurf machen zu wollen, gilt als moralisch verwerflich und wird mit totalem Unverständnis quittiert.
Die fünfzehn deutschen Schüler der Berufsbildenden Schulen Hannover-Land, die sich seit dem 3. Mai für zwei Wochen in Wolgograd aufhalten, um im Auftrag des Volksbundes gemeinsam mit russischen Jugendlichen deutsche und russische Gräber zu pflegen, werden vor diesem Hintergrund zweifellos eine herzliche Aufnahme finden. Als angehende Floristen und Gärtner wollen sie der Gedenkstätte in Rossoschka den letzten gartenbautechnischen Schliff für die möglichst bald nachzuholende Einweihungsfeier geben.
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