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Lebendige deutsche Sprache

 
     
 
Die Nation, die keine sein will", lautet der Titel des Buches, in dem 1991, kurz nach der Vereinigung der beiden deutschen Nachkriegsstaaten Professor Christian Meier, München, prophetisch die Schwierigkeiten vorhergesagt hat, die bei dem Zusammenwachsen der Deutschen aus diesen beiden deutschen Teilen entstehen würden.

Diese Aussage stellte Eberhard Schöck in den Mittelpunkt der Ehrung Meiers bei der Übergabe des Jacob-Grimm-Preises, die im Rahmen des "Kulturpreises Deutsche Sprache" am 18. Oktober 2003 zum dritten Mal in Kassel, der Stadt des Wirkens der Brüder Grimm
, erfolgte.

Der Preis wird von der Eberhard-Schöck-Stiftung (Baden-Baden), der Theo-Münch-Stiftung (Düsseldorf) und dem Verein Deutsche Sprache e.V. (Dortmund) in Zusammenarbeit mit der Brüder-Grimm-Gesellschaft e.V. Kassel vergeben. 2001 war der Schriftsteller Rolf Hochhuth für seinen Einsatz gegen die Verhunzung der deutschen Sprache und für die Wahrung ihrer Stellung in Europa geehrt worden. 2002 hatte Ludmila Putina, die Gattin des russischen Präsidenten, den Preis für ihre konkreten Bemühungen um die deutsche Sprache in Rußland erhalten. Schöck, der das Lebenswerk des Historikers und ehemaligen Präsidenten der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Meier auszeichnete, pries dessen "nimmermüden Einsatz bei der Pflege und Weiterentwicklung der deutschen Sprache". Die Frage, was der Kulturpreis Deutsche Sprache mit der Nation zu tun habe, beantwortete Schöck damit, daß die Art und Weise, wie wir mit unserer Sprache umgingen und wie Journalisten und Werbeleute ihre sprachliche Kreativität ganz auf die englische Sprache verlegt hätten, "ein Zeichen dafür sei, daß kein nationales Selbstwertgefühl vorhanden ist."

Für ihn, Schöck, ist "die Anglisierung unserer Sprache nur ein Symptom - die Krankheit ist das fehlende nationale Selbstbewußtsein." Meier habe vor zwölf Jahren in seinem Buch festgestellt: "Entweder schaffen wir es, eine Nation zu sein - oder besser: es zu werden -, oder wir werden dauerhaft und nachhaltig sehr große Schwierigkeiten im eigenen Land bekommen." Heute stehe fest: Wir seien im Ergebnis nicht zu einer richtigen Nation geworden und wir hätten heute "sehr große Schwierigkeiten". Schöck fragte: "Was bedeutet es, eine Nation zu sein?" und beantwortet seine Frage zugleich mit der Formulierung Meiers:

"Wir müssen die Fähigkeit entwickeln, über alle Pluralismen und Gegensätze hinweg auch in schwierigen Situationen geschlossen und verantwortlich zu handeln." Schöck stellte fest, in einer Nation gebe es ein Gefühl zusammenzugehören. Eine Nation sei in der Lage, gemeinsame Ziele zu formulieren und sie gemeinsam verantwortlich zu verfolgen. Es gelte, "langfristig die Zukunft des Landes und der Menschen zu sichern oder auch das internationale Ansehen des Landes durch entsprechende Leistungen zu verbessern".

Statt dessen seien in den vergangenen 50 Jahren nur individuelle Interessen und unterschiedliche Gruppeninteressen verfolgt worden, aber es sei nahezu tabu gewesen, über nationale Interessen zu reden. Schöck: "Die Parteien, die uns regierten und regieren, hatten kaum ein anderes Ziel, als ihre Macht zu erhalten oder wiederzuerlangen. Dies erreichten sie bisher, indem sie immer den spendablen Onkel spielten, großzügig Geld verteilten nach innen und nach außen." Das aber funktioniere seit Anfang der neunziger Jahre nicht mehr. Jeden Tag könne man davon in den Zeitungen lesen. Die Lösung dieser Probleme könne nur gelingen, wenn wir eine Nation geworden sind, verlangte Schöck ganz im Sinne von Meier als Antwort auf die gegenwärtigen Schwierigkeiten. Er überreichte den Jacob-Grimm-Preis mit dem Wunsch, daß Meier noch lange als Mahner und Mitgestalter unserer Nation und Sprachgemeinschaft erhalten bleibe.

Bundestagsvizepräsident Dr. Norbert Lammert (CDU) hatte zuvor in seiner Laudatio auf Meier festgestellt: "Es gibt nicht allzu viele Intellektuelle in Deutschland, die gegen den Zeitgeist den Parlamentarismus und die Parteien weder für verkommen noch für verzichtbar halten und trotz der oft zu Recht beschworenen Gefahren des Nationalismus mit ebenso guten Gründen die Bedeutung der Nation für das Selbstverständnis und das Selbstbewußtsein eines Landes hochhalten."

Mit seinem eindrucksvollen, entschlossenen, aber nie dogmatischen Einsatz für die Sprache habe sich Meier in die Tradition großer deutscher Gelehrter wie Jacob Grimm eingereiht. Meier dankte mit einer glanzvollen Rede für die Ehrung. Dabei betonte er, daß alle lebendi- gen Sprachen Wörter aus anderen Sprachen übernehmen. Zum Beispiel sei es ein normaler Vorgang, wenn man "event" übernehme, denn um ein "Ereignis" handele es sich dabei nicht, auch nicht bloß um eine "Veranstaltung". Wenn Badezimmereinrichter ihre guten Dienste allerdings mit "Bad Design" anpreisen, sei das ebenso unsinnig wie "Toll Collect", also eine tolle Kollekte, was sich schließlich als ein Stück aus dem Tollhaus erweise. Selbstbedienung durch "Self Service" und die Auskunft durch "Service Point" zu ersetzen sei so unsinnig, wie ein Ortsgespräch "City Call" zu nennen, und erweise sich als Anglomanie, die sich schließlich in anglisierenden Wörtern wie "Handy" oder "Know-how" kundtue, die man im englischen Sprachbereich gar nicht kenne. Ganze Teile der Wissenschaft würden in Deutschland schon auf englisch betrieben. Deutsche Politiker, Sportler und Wirtschaftskapitäne sprächen im Ausland gern englisch, und Hotelangestellte täten es auch in Deutschland gern, auch wenn die Ausländer Deutsch aufs beste verstünden und davon gern Gebrauch machen würden. Weltweit sind "alle Sprachen gleich, aber das Englische ist gleicher als die anderen". Das aber heiße nicht, daß die anderen damit gleichgültig geworden wären.

"Im Gegenteil. Man muß sich nur neu auf sie besinnen", sagte Meier. Wo es um Innovation gehe, denken Fachleute, die sich auf die englische Umgangssprache gut verstehen, in ihrer Muttersprache. "Sprache ist ja nicht nur ein System von Zeichen, das wir benutzen, sondern ein ganz umfassendes Element, in dem wir uns bewegen und ausdrücken, fühlen, atmen, wittern, uns mit Andeutungen verständigen, nuancieren, spielen können; ein Raum voller Assoziationen, von Jugend auf." Die weiterhin große zentrale Bedeutung der Muttersprachen verstehe sich also von selbst.

Mißtrauisch ist Meier in der Sprachenfrage gegenüber dem Staat, denn der habe sich durch die sogenannte "Rechtschreibreform" radikal desavouiert.

"Wir leiden an unserer Nation, hoffen auf Europa, ohne uns aber für Europa zu interessieren, ohne also zu versuchen, es mitzuformen. Offenbar ist es nicht Fluchtpunkt, sondern Fliehburg für uns. Und wir wissen nicht, wie sehr gerade Europa darauf angewiesen ist, daß seine Nationen - in ihren Sprachen - das Ihre tun, statt sich samt ihren Sprachen zu verleugnen." Meier hofft auf die Zukunft, "auch wenn sie ganz anders wird, als wir es uns in unserer Bequemlichkeit vorstellen."

Die Anglifizierung der Sprache ist ein Zeichen fehlenden Bewusstseins
 
     
     
 
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