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Mythos oder Wahrheit?

 
     
 
Die Weiße Rose, in deren Namen Hans Scholl und seine Freunde zum Widerstand "wider den Boten des Antichrist" aufriefen, gilt als Symbol des aus christlichem Humanismus erwachsenen Aufstands des Gewissens junger Menschen und ihres Märtyrertodes. Das Bild, zuletzt bestätigt durch den Sophie-Scholl-Film, geht maßgeblich auf das erstmals 1952 erschienene Erinnerungsbuch von Inge Scholl zurück. Die Autorin, ehedem selbst Führerin einer Ulmer BdM-Gruppe, rückte die anfängliche Begeisterung der Geschwister Scholl für den "national
en Aufbruch" aus dem Blick.

Daß im Auseinanderfallen von Mythos und Wirklichkeit der Mythos gleichwohl die historische Wahrheit birgt, wäre an der "Weißen Rose" beispielhaft zu zeigen. Auf welchen Umwegen, anfangs im jugendlichen Widerspruch zum christlich-liberalen Vater, die Scholls den selbstmörderisch anmutenden Kampf gegen das NS-Regime aufnahmen, bedarf historisch-kritischer Erhellung. Eine Publikation liegt seit langem vor: "Die Ulmer Trabanten - Hans Scholl zwischen Hitlerjugend und dj.1.11". In seinen Beiträgen betonte Eckard Holler die ideellen und ästhetischen Leitbilder der Jugendbewegung, welche die jungen Scholls und ihre Freunde zu früher Widerständigkeit inspirierten. Herausgearbeitet wurden die ab Sommer 1938 bestehenden Kontakte der Familie Scholl zu dem vom NS-begeisterten Reichswehroffizier zum (National-)Kommunisten konvertierten Richard Scheringer.

Wenn derlei Fakten samt Literaturbeleg bei Sönke Zankel, der aufgrund vierjähriger Forschungsarbeit beansprucht, "ein anderes, ein kritischeres" Bild der sogenannten "Weißen Rose" zu präsentieren, nicht zu finden sind, so erscheint der wissenschaftliche Ertrag des Buches von vornherein fragwürdig. Des Autors Forscherstolz tut sich im Titel kund. Er gründet in der Tatsache, daß die beiden letzten Flugblätter nicht mehr mit "Die Weiße Rose" unterzeichnet, sondern als "Flugblätter der Widerstandsbewegung in Deutschland" übertitelt waren, woraus ein "Kurswechsel zur Demokratie" abzuleiten sei. Dem ursprünglichen Namenssymbol - für den in der Literatur bewanderten Hans Scholl nichts anderes als ein Signum der Lauterkeit - heftet Sankel folgende Interpretation an: "Die ,Weiße Rose war für Scholl ihrem Ursprung nach ein Symbol der Konterrevolution gegen die demokratischen Ideen von 1789 und dieses Zeichen benutzt er bewußt. Dieses Erklärungsmodell des Namens ,Weiße Rose , gekoppelt mit der Funktion des ,guten Klangs bei möglicherweise einem begrenzten Einfluß von [Clemens von] Brentanos ,Romanzen vom Rosenkranz , worauf Scholl in seinem Verhör hinwies, ist die schlüssigste Erklärung des Namens."

Der Autor, Studienreferendar mit Lehrauftrag an der Universität Flensburg, ringt mit der Sprache. Doch es geht um mehr als um stilistische Fragen. Gravierender sind die fehlende Sachkenntnis (beispielsweise wird Willi Grafs katholisches Staatsverständnis mit der lutherischen Obrigkeitslehre nach Römer 13 erklärt) sowie die Neigung des Autors, bar jeder historischer Sensibilität, den politisch korrekten Zeigefinger zu erheben.

Die auf Originalität erpichte Interpretation der sechs Flugblätter zeichnet sich durch Unverständnis und Besserwisserei aus. Wenn Alexander Schmorell ("kein Intellektueller") im zweiten Flugblatt (Juni 1942) die Ermordung von 300000 Juden in Polen anprangerte, so moniert Sankel, dies sei "die einzige konkrete Kritik" am Judenmord geblieben. "Die Judenfrage" im "Altreich" habe Scholl und Schmorell nicht sonderlich interessiert, sonst wären sie in anderen Flugblättern darauf zurückgekommen. In klarem Widerspruch dazu steht das Zitat aus Christoph Probsts Entwurf, den Hans Scholl bei seiner Verhaftung mit sich trug, wo es über Hitler heißt: "Ihm, der die Juden zu Tode marterte, die Hälfte der Polen ausrottete, Rußland (!) vernichten wollte ..." Theodor Haecker, dem Mitherausgeber des reformkatholischen "Hochland", unterstellt Zankel christlichen Antijudaismus. Daß er über Kurt Huber ("Widerstand von rechts"), einen Anhänger der Bayerischen Volkspartei, den Stab bricht, indem er ihn als Nationalisten, Antibolschewisten und Antisemiten einsortiert, versteht sich von selbst. Des Autors Resümee über den "Scholl-Schmorell-Kreis": "Es bleibt der ... Eindruck, als sei der gesetzlich legitimierte Antisemitismus, der jenseits von Ermordung und Versklavung etabliert worden war, hingenommen worden beziehungsweise die Kritik am Antisemitismus befand sich nicht in ihrem Horizont."

Allein die Rezensentenpflicht hindert daran, das Buch nach ein paar Seiten zuzuklappen. Daß Ausdruck und Syntax vom Lektorat unbeanstandet blieben, verwundert im Zeichen der Rechtdenkreform wenig. Daß das Opus an der Münchner Universität, wo es das Gedenken der Weißen Rose zu pflegen gilt, ohne massive Korrekturen als Dissertation (im dreifachen Umfang der Buchversion) vorliegt, erhellt den Zustand deutscher Geisteswissenschaften über 60 Jahre nach dem Ende des NS-Regimes. Herbert Ammon

Sönke Zankel: "Die Weiße Rose war nur der Anfang - Geschichte eines Widerstandskreises", Böhlau, Berlin 2006, 215 Seiten, 22
 
     
     
 
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