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Müder Abklatsch

 
     
 
Der französische Empörergeist", schrieb im November 1789 Justus M. Hoscher, Sekretär des Reichskammergerichtes zu Wetzlar, packe Deutschland "wie ein elektrischer Schlag". Tatsächlich provozierten die tiefen Umbrüche des Nachbarlandes diesseits des Rheins mannigfache Reaktionen. Den Debatten der Gelehrten folgten Proteste bürgerlicher Kreise und sogar Volkstumulte. Vor allem in West- und Süddeutschland entstanden allenthalben, orientiert an französischen Vorbildern, demokratische Clubs. Der Historiker Jürgen Riethmüller sieht eine "regelrechte demokratische Bewegung" am Werk, die, so spekuliert er, etwa zehn Prozent der deutschen Bevölkerung
erfaßt habe.

Der Autor tritt der These entgegen, daß es in Deutschland "keine oder nur wenige demokratische Traditionen" gegeben habe, und er empfiehlt, "jenen Frühling als Quelle traditionaler Verortung der heutigen Bundesrepublik" zu nutzen. Schon vor 1789 hätten einzelne deutsche Intellektuelle wie Christian Wolff, Schlegel oder Georg Forster demokratische Prinzipien vertreten. Aber erst die französische Revolution ließ dieses Rinnsaal zu einem machtvollen Strom anschwellen. Nun artikulierte sich eine breitgefächerte "schriftliche Öffentlichkeit".

Demokraten hießen damals "Republikaner" oder "deutsche Jakobiner"; sie eiferten französischen, aber auch antiken Vorbildern nach. Volkssouveränität, Mehrheitsprinzip, individuelle und soziale Grundrechte, Gewaltenteilung bildeten die Eckpfeiler ihres Denkens. Selbstverständlich gab es viele Differenzen im einzelnen; auch ist der fundamentale Gegensatz von Liberalen, die soziale Gleichheit und allgemeines Wahlrecht ablehnten, und den Anhängern demokratischer Partizipation zu beachten.

Mehrere im späten 18. Jahrhundert erdachte Verfassungsentwürfe, darunter die "Grundlinien zu einer allgemeinen deutschen Republik" von W.T. Krug, inspirierten laut Riethmüller noch die Paulskirchenversammlung von 1848. Der Autor schildert in seiner stark systematisch angelegten Studie auch die Insurrektionen städtischer und bäuerlicher Kreise, wobei letztere oft eine Rück-kehr zum "alten Recht" verlangten. Auch das Zwischenspiel der "Mainzer Republik" von 1792/93 und die kurzlebige "Cisrhenanische Republik" im Raum Köln/Aachen, beide von Frankreich dominiert, werden knapp erörtert.

Obwohl Riethmüller kaum Primärquellen studierte, hat er diesen interessanten Aspekt deutscher Geschichte gründlich bearbeitet. Dennoch stellt sich die Frage, ob er an wichtigen Punkten das Geschehen angemessen interpretiert. Auch Riethmüller kann die Tatsache nicht verschleiern, daß es der "frühdemokratischen" Bewegung, die meist auf den politisch ohnmächtigen deutschen Südwesten beschränkt blieb, nicht gelang, die Verhältnisse signifikant zu ändern. In dem staatlich extrem zersplitterten und rückständigen Deutschland fehlten fast alle Grundlagen, die eine demokratische Fundamentalopposition benötigte. Es bedurfte zahlreicher Vorarbeiten, um in Deutschland die nötige historische "Reife" herzustellen. Daher sollte man sich nicht wundern, daß "deutsche Jakobiner" keine Wege zur politischen Praxis fanden. Sie repräsentierten nicht zuletzt die sehr deutsche Tradition idealistischer Philosophie. Außerdem entschärften, wie Riethmüller richtig bemerkt, die Reichsgerichte politische Konflikte.

Statt nun die vielen und wichtigen Unterschiede zwischen französischer und deutscher Kultur zu analysieren, dekretiert Riethmüller im Stil eines PR-Managers, daß die These vom deutschen Sonderweg "Bullshit" sei. Die Revolution von 1848 gilt ihm als "müder Abklatsch" der demokratischen Bewegung des 18. Jahrhunderts. Genauso verzeichnet er historische Proportionen, wenn er die Bedeutung des "aufgeklärten Absolutismus" verkennt. Seit 1800 habe hierzulande bis 1918 nur die "Reaktion" geherrscht! Trotz Stein und Hardenberg, Graf Stadion und Montgelas, von Bismarck zu schweigen? Zu häufig fiel Riethmüller seiner gut gemeinten Emphase zum Opfer. Rolf Helfert

Jürgen Riethmüller: "Die Anfänge der Demokratie in Deutschland", Sutton Verlag, edition tempus, Erfurt 2002, 224 Seiten, 17,90 Eur
 
     
     
 
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