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Plötzlich wieder Feindstaat

 
     
 
Eigentlich könnte man annehmen, daß sich die Schatten des kriegerischen 20. Jahrhunderts allmählich lichten, doch völlig unerwartet wurde Berlin in einem Schreiben an seinen Status als "ehemaliger Feindstaat" erinnert. Absender dieser Note war Moskau. Grund für diesen unerfreulichen Brief war die Anfrage der Bundesrepublik, das seit 1945 in russischem Besitz befindliche Rathenau-Archiv zurückzubekommen. Doch anstatt den rund 70.000 Blatt umfassenden Nachlaß des einstigen Präsidenten der AEG und Außenministers
der Weimarer Republik im Rahmen der deutsch-russischen Verträge zur Rückführung der Beutekunst mit ein paar diplomatischen Worten wieder in deutsche Hände zu übergeben, ist sogar die Rede von "kompensatorischer Restitution". Zu Recht reagierte die Bundesrepublik empört auf diesen Affront und spricht von "Bruch des Völkerrechts", schließlich ist es keinesfalls angebracht, fast 59 Jahre nach Kriegsende die historischen Dokumente als Ausgleich für erlittene Kriegsschäden einzubehalten, denn nichts anderes sagt Moskau mit seiner Note aus.

Aufgrund der guten diplomatischen und auch wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Rußland in den letzten Jahren paßt dieser unpassende Griff in die historische Mottenkiste nicht ins Bild. Was veranlaßt den Inhaber der begehrten Akten zu dieser heftigen Reaktion, und welches Interesse hat er an dem Nachlaß des 1922 ermordeten Politikers, der vor allem wegen des Vertrages von Rapallo für Rußland von Bedeutung ist?

In Rapallo kam es 1922 zu Sonderverhandlungen der deutschen Regierung mit der sowjetrussischen Delegation. Walther Rathenau unter-

zeichnete als Außenminister das Abkommen, in dem Deutschland seine 1918 abgebrochenen diplomatischen Beziehungen zu Sowjetrußland wieder aufnahm. Beide Seiten verzichteten darin auf Ersatz der Kriegskosten und der Kriegsschäden. Damit wurde Artikel 116 des Versailler Vertrags hinfällig, der Rußland Aussicht auf deutsche Reparationen eröffnet hatte. Im Gegenzug verzichtete Deutschland auf alle Ansprüche für das durch russische Verstaatlichungsmaßnahmen betroffene deutsche Eigentum.

Angesichts des starken russischen Interesses bezüglich der Nichtfreigabe des Rathenau-Archivs ist anzunehmen, daß dort Dinge beschlossen wurden, die selbst 82 Jahre später nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind. Anders jedenfalls ist diese Provokation von russischer Seite nicht zu erklären. Fritz Hegelmann

Walther Rathenau: Außenminister der Weimarer Republik.
 
     
     
 
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