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Ich habe keine Heimatstadt gehabt und gekannt und erst spät erfahren daß ich ein Heimatland habe; daß ich ein Vaterland habe, erst an mir selber in reifen, bitteren Stunden. So habe ich auch kein Elternhaus und keine Familie gehabt und es wäre ein müßiges Zugeständnis an das Schema der Autobiographie wenn ich von Land, Provinz, Stamm und Stadt, Vätern und Eltern ausginge", schreibt Rudolf Borchardt (1877-1945) in dem jetzt bei Suhrkamp herausgekommenen Band Rudolf Borchardts Leben von ihm selbst erzählt (mit einem Nachwort von Gustav Seibt, 168 Seiten, geb., 12,80 Euro). Der Text entstand zwischen 1826 und 1927, wurde in fünf gekürzten Folgen in der Unterhaltungsbeilage der "Münchener Neuesten Nachrichten" 1927/28 veröffentlicht und erstmals vollständig 1966 von der Hamburger Maximilian-Gesellschaft herausgegeben; die vorliegende Ausgabe hält sich an die Neuedition in dem Band Prosa VI der Gesammelten Werke in Einzelbänden, 1990 bei Klett-Cotta erschienen.
"Meine Erinnerung enthält für meine ersten Jugendjahre keinerlei Bilder", so Borchardt weiter. "Was mir erzählt worden ist, hat auf meine Entwicklung schlechterdings keinen Einfluß geübt. Königsberg von woher der Geburtsschein mich schreibt, habe ich nie gesehen und gekannt, außer als schlummernder Säugling . Meine Eltern waren daher gebürtig, aber längst in Moskau ansässig, wo der Vater ein Königsberger Handelshaus vieler Sozien, meist Verwandter vertrat. Auf einer Reise der mich erwartenden Mutter in die Heimat bin ich geboren, dann schleunigst in die Fremde verbracht und nach wenig Jahren mit der ganzen Rußland verlassenden Familie nach Berlin geführt worden. Nichts als schwimmende Schatten davon sind je in mir geblieben ..."
Im August 1929 allerdings straft Borchardt sich selbst Lügen, wenn er für einen Faltprospekt des Berliner Horen-Verlages schreibt: "Obwol ich meine Vaterstadt seit dem kaum wiedergesehen habe, fühle ich mich nach Familientradition und geistiger Anlage mit Stolz als Ostpreu- ße ..." Auch Literaturwissenschaftler wie Prof. Dr. Helmut Motekat sehen in Borchardt einen östlichen Menschen. "Es war", so Motekat in seiner "Otspreußischen Literaturgeschichte", München 1977, "nach Herkunft und Begabung - auch in dem Nebeneinander von poetischem und kritischem Talent - sehr viel Östliches in Borchardt, durch Ostdeutschland ins Idealistisch-Patriotische gelenkt." Kant, Hamann und Herder wiesen Borchardt den Weg. "Wie Herder", so Motekat, "wollte Borchardt sein deutsches Volk bilden, es sprachbewußt und geschichtsbewußt machen. Wie Herder sah er im Erinnern und Wiederherstellen von Vergangenem und Vergessenem die Kräfte der Gestaltung des Gegenwärtigen und Zukünftigen."
Borchardts Vorfahren waren Juden, auch unter diesem Aspekt muß man seine Autobiographie verstehen, sein Bemühen, ein Deutscher zu sein, "so wie er sich danach sehnte, ein geliebtes Kind seiner Familie zu sein" (Seibt). Mit der Schilderung seines Lebens wolle er vor allem eines aufzeigen - "die Bedeutung des Königsbergischen und Ostdeutschen für alles was entscheidend auf meine erste Jugend gewirkt hat..." os
Zacharias Werner: Dramatiker aus Königsberg und Zeitgenosse E.T.A. Hoffmanns Lithographie von Engelmann nach einem Gemälde von Wilhelm v. Schadow |
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