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Die Reformen, die Kanzler Schröder uns in Form seiner "Agenda 2010" versprochen beziehungsweise angedroht hat, sollen erklärtermaßen auch dem Zwecke dienen, den Standort Deutschland wieder international konkurrenzfähig zu machen, zum Beispiel durch niedrigere Arbeitskosten, um so kapitalstarke Investoren anzulocken oder im Lande zu halten.
Die Gleichung klingt eigentlich ganz einfach: weniger Lohn und Lohnnebenkosten gleich mehr Arbeitsplätze, und zwar im Inland. Leider ist diese Rechnung bislang nicht aufgegangen. Wo überhaupt geringfügige Entlastungen (beispielsweise durch Beitragssenkungen im Null-Komma-x-Bereich) eintraten, wurden sie mehr als wettgemacht durch höhere Kosten, vor allem im Energiebereich.
Nach wie vor macht das internationale Kapital einen großen Bogen um unser Land. Es entstehen keine neuen Arbeitsplätze. Stattdessen werden immer mehr Stellen entweder ganz gestrichen oder ins Ausland verlagert.
Und gerade bei diesem Punkt ist der Trend zunehmend besorgniserregend. Trotz aller Versuche, den Aufschwung herbeizureden, bekunden nach neuesten Umfragen 90 Prozent aller Industrieunternehmen die konkrete Absicht, zumindest mit einem Teil ihrer Produktion ins Ausland zu gehen. Diese Quote ist, wie Experten der TH Aachen warnend betonen, in den letzten zehn Jahren um 21 Prozentpunkte nach oben geschnellt. Weiter verdüstert wird das ohnehin traurige Bild noch dadurch, daß nicht nur Jobs im Billiglohnsektor abwandern, sondern auch hochqualifizierte Arbeitsplätze in den Forschungs- und Entwicklungsabteilungen.
Bevorzugte Richtung der Flucht aus dem Standort Deutschland: Osten. Zur Zeit sind die mittelosteuropäischen EU-Beitrittsländer die Favoriten. Doch schon stellt die Wirtschaft sich darauf ein, daß Lebensstandard und Lohnkosten sich in Ländern wie Polen oder Tschechien zügig westlichem Niveau annähern und Lohnkostenvorteile dann kaum noch eine Rolle spielen werden.
So geht der Blick bereits über die neue EU-Ostgrenze hinaus. In Bukarest und Sofia, aber auch in Moskau, Minsk und Kiew sondieren deutsche Unternehmen künftige Investitionsmöglichkeiten. Nach wie vor erfreuen sich zudem Fernost und die Türkei bei abwanderungswilligen Firmen größter Beliebtheit, auch wenn man hier häufiger mit Qualitätsdefiziten zu kämpfen hat.
Wirtschaftsexperten wie der Leiter des Hamburger Welt-Wirtschafts-Archivs, Prof. Thomas Straubhaar, meinen freilich, diese Abwanderung sei für Deutschland gar nicht unbedingt von Nachteil: Neue Arbeitsplätze im Ausland könnten durchaus auch für neue Arbeitsplätze im Inland sorgen - "wenn man eine kluge Wirtschaftspolitik macht!"
Dies trifft in Einzelfällen zu. Zum Beispiel bei einem von der Bundesministerin für Bildung und Forschung geförderten Projekt in Forst an der Neiße. Insgesamt aber ist die Bilanz in Deutschland negativ, im Gegensatz etwa zu den USA: Dort schafft oder sichert derzeit ein ins Ausland verlagerter Arbeitsplatz statistisch gesehen 1,2 Arbeitsplätze im Inland.
So hat Professor Straubhaar wohl recht mit seinem "wenn eine kluge Wirtschaftspolitik gemacht wird ..." Deutschlands größtes Problem ist demnach nicht die Tatsache, daß die Fluchtwelle zunehmend auch mittlere und kleinere Firmen erfaßt, die bislang als eher bodenständig galten.
Das wahre Problem ist vielmehr, daß in unserem Lande eben keine "kluge Wirtschaftpolitik" gemacht wird, daß die Reformen nur halbherzig, dazu auch noch handwerklich stümperhaft und alles andere als geradlinig umgesetzt werden, daß die Regierung es versäumt hat, die Menschen auf diesem Weg der Erneuerung "mitzunehmen", um so Gruppenegoismen auszuschalten, und daß auch die Opposition keine überzeugende Alternative anzubieten hat. Juliane Meier
Patient Deutschland: Mitarbeiterinnen einer Apotheke in Leipzig erwarten die Montagsdemonstranten gegen Arbeitslosigkeit und Sozialabbau. Viele von ihnen werden auch darüber nachdenken, daß sie nicht - wie so viele Firmen - ins Ausland abwandern können, um den Problemen am Standort Deutschland zu entgehen. |
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