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Wenn die Erbsenrankeln sich umhertreiben, fangen die Mädchen an, am Abend zusammenzukommen und zu nähen", heißt es bei Elisabeth Lemkes "Volkstümliches aus Ostdeutschland", erschienen 1899 in Allenstein. Das war etwa im August, von diesem Zeitpunkt an durften sie für sich selbst nähen. Von Martini an aber, um den 11. November also, und während des ganzen Winters mußten sie für ihre Herrschaft arbeiten, dazu gehörte auch das Spinnen. An langen Abenden saß man beisammen, und alle spannen um die Wette. Die Mädchen durften erst dann aufhören, wenn die Bäuerin ihre Arbeit niederlegte ...
Viel ist entstanden an diesen langen Abenden. Da wurde nicht nur gesponnen, da wurde auch die Wolle der Skudden, dieser typischen ostdeutschen Schafsrasse, verarbeitet und Handschkes gestrickt. Da wurden Decken gewebt für die Aussteuer und Teppiche geknüpft. Mancher gelang es sogar, das äußerst schwierige Doppelgewebe herzustellen. - Was ist davon geblieben? Wer weiß heute noch um die alten Techniken? Wer kann erzählen von der textilen Volkskunst , die einst zum bäuerlichen Leben in Ostdeutschland einfach dazu gehörte? "Aus dem Strandgut der Erinnerungen" (Siegfried Lehmann) wird heutzutage mühsam das eine oder andere hervorgeholt, gerade noch rechtzeitig vor dem endgültigen Verlust. Und so ist es einer Frau zu verdanken, die mit eisernem Willen und typisch ostdeutscher Hartnäckigkeit alles daran gesetzt hat, ihr Wissen um die heimatliche textile Volkskunst an andere weiterzugeben: Endlich konnte Irene Burchert, vielen noch von den Werkwochen der Freundeskreis Ostdeutschland im Ostheim bekannt, als sie in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts interessierten Frauen das Weben nahebrachte, oder aus den Webvorführungen im Ostdeutschen Landesmuseum, endlich hat sie ihr Wissen in Buchform herausgeben können. Gemeinsam mit Jörn Barfod vom Landesmuseum hat Irene Burchert im Husum Verlag die erste umfangreiche Dokumentation zum Thema Textile Volkskunst Ostdeutschlands (231 Seiten, zahlr., teils farbige Abb., geb., 24,95 Euro) herausgebracht. Eine Fundgrube für alle Volkskundler, aber auch für Frauen (und Männer), die gern nach alten Mustern handarbeiten. Ausführliche Arbeitsanleitungen im Anhang geben notwendige Hilfestellungen.
Irene Burchert weiß, wovon sie spricht. Aufgewachsen auf einem Bauernhof in Allenstein, wollte sie Landwirtschaftslehrerin werden. Nach den ersten Prüfungen kam der Zweite Weltkrieg mit all seinen Schrecken. Irene Burchert traf es besonders hart - sie wurde nach Sibirien verschleppt und mußte dort bis 1949 Zwangsarbeit leisten. Der Neubeginn im Westen war schwer. Es blieb das Weben.
"Die Leiterin der Webschule Lyck, Bertha Syttkus, hatte in Osnabrück ihre Werkstatt", erinnert sich Irene Burchert. "Zu ihr war eine Verbindung geblieben, auch über meine Mutter. Zu ihr fuhr ich 1972 hin, hoffte den Stoff für eine Tracht zu bekommen, aber die Werkstatt war aus Altersgründen geschlossen. Stoff für eine Tracht konnte ich mir weben. Als sie sah, daß keine Kettfäden rissen, daß ich weben konnte, sagte sie: ,Komm und übernimm die Werkstatt! Alle Webstühle standen noch. Wie aber sollte das gehen? Ich lebte in Holstein und hatte Großfamilie.
,Dann nimm einen Webstuhl und webe wenigstens den Trachtenstoff, damit er erhalten bleibt. Da mußte ich erst meinen Mann fragen. Nach anfänglichem Zögern willigte er ein. Der Webstuhl steht heute noch in einem kleinen Raum, den wir für ein Badezimmer angebaut hatten, das zum Glück noch nicht eingebaut war. Und mein Mann machte mit, half, wo er nur konnte, ohne ihn hätte ich das gar nicht können. Das war 1972 - vor mehr als 30 Jahren!
Zunächst webte ich Trachtenstoff und suchte, forschte nach geretteter Volkskunst, fand das Buch von Prof. Konrad Hahm: ,Ostdeutsche Bauernteppiche . Erlernte 1976 das Doppelgewebe in Osnabrück bei Frau Syttkus. Machte das, was ich 1942/43 auf der Webschule in Lyck gelernt hatte. Gerettete Decken machte ich fertig zum Nachweben, ,hob die Muster aus und webte einzelne nach." Die Ergebnisse dieses segensreichen Schaffens konnte man immer wieder auf den Deutschlandtreffen der Ostdeutschland bestaunen. Ein Höhepunkt der unermüdlichen Arbeit der Ostpreußin aber ist das neue Buch, das nicht zuletzt auch durch die reiche Bebilderung fasziniert, darunter Skizzen aus der Sammlung Scheu und Zeichnungen mit Trachtendarstellungen von E. v. Korff aus dem Tiroler Volkskunstmuseum in Innsbruck.
Ein umfangreiches Kapitel beschäftigt sich mit den Trachten in Ost- und Westpreußen. Der Kunsthistoriker und Volkskundler Barfod geht darin ausführlich auf die Trachtenerneuerung ein, die bereits oftmals zu Mißverständnissen geführt hat. Er zeigt auf, wie Trachten dokumentiert wurden, beschreibt die Besonderheiten in den verschiedenen Landschaften und schildert die Einrichtungen der volkstümlichen Heimarbeit. Diese waren angehalten, die Eigenheiten der verschiedenen Landschaften Ostdeutschlands möglichst beizubehalten, aber auch neue Muster diesen Eigenarten anzupassen. Private Initiativen wie das samländische Gut Carmitten und die Hof Kapkeim Weberei im Kreis Königsberg werden genannt.
Textile Besonderheiten aus Ostdeutschland sind einmal die bunten Jostenbänder, die als Gürtel, Schürzenbänder oder Tragegurte Verwendung fanden, aber auch die bäuerlichen Knüpfteppiche, die nahe verwandt sind mit den finnischen und schwedischen Bauernteppichen, dort Ryen, in Ostdeutschland oft "Kotz" genannt, das ursprünglich grobes, zottiges Wollzeug meinte. Dabei waren diese Teppiche wahre Schmuckstücke und gehörten zur Aussteuer. "Kuddrä" hingegen nannte man eine andere Besonderheit, das Doppelgewebe, das am Flachwebstuhl entstand und bei dem zwei vollkommen selbstständige Gewebe in Leinenbindung zu einem Doppelhohlgewebe miteinander verbunden wurden. Diese kostbaren Doppelgewebe, die schon die alten Prussen kannten, dienten als Tischdecken bei sakralen Handlungen. Stellvertretend für die Kunst des Doppelwebens mögen die Namen Erna Koller und Irene Burchert stehen, wie überhaupt in dieser Dokumentation auch die Verdienste von Bertha Syttkus von der Webschule Lyck und von Prof. Konrad Hahm, dem die Dokumentation "Ostdeutsche Bauernteppiche", Jena, 1939, zu verdanken ist, gewürdigt werden.
Ohne Menschen wie sie, die sich der überlieferten Werte bewußt waren und die sich für den Erhalt dieser Werte einsetzten, ist es arm bestellt um die Kultur. Die Dokumentation von Irene Burchert und Jörn Barfod reiht sich nahtlos ein in diese Kette.
Doppelgewebe: Diese spezielle Webtechnik kannten schon die alten Prussen, hier ein Motiv, das Irene Burchert nach Konrad Hahms Buch "Ostdeutsche Bauernteppiche" Nachwebte Ostdeutschlandkleid: Handgewebter Miederrock mit dem typischen Rautenmuster
Warme Handschkes: Fingerhandschuh (um 1920) und gleiches Muster als Fausthandschuh nachgestrickt
Fotos: aus dem besprochenen Buch Knüpfteppich: Inschrift 1768, erworben im Kreis Lyck, heute im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg
Jostenbänder: Nach historischen Bändern aus dem nördlichen Ostdeutschland nachgewebt
Nützliche Adressen:
Irene Burchert, Appelwarder 1, 24211 Kühren/Preetz, Telefon 0 43 42/25 89; dort gibt es Stoffe und weitere Informationen.
Handweberei Peters, Neuenhäuser Straße 7, 38458 Velbke, Telefon 0 53 64/ 94 74 80; www.handweberei-peters.com ; dort gibt es auch die Stoffe für das Ostdeutschlandkleid. |
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