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Tagebuch eines DDR-Intellektuellen

 
     
 
Die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit findet in einem Dreieck aus systemtheoretischen Erklärungsmustern westlicher Provenienz, Stasi-Enthüllungen und Beiträgen von Bürgerrechtlern statt. Wieviel dabei an relevanten Erfahrungen unberücksichtigt bleibt, zeigt ein Buch aus dem Leipziger Verlag Faber & Faber. Verfasser ist Ulrich Dietzel, Jahrgang 1932, der 1955 von Alfred Kantorowicz an die Akademie der Künste
in Ostberlin geholt worden war. Der langjährige Leiter der Literaturarchive der Akademie amtierte von 1990 bis 1993, bis zum Zusammenschluß mit dem Westberliner Pendant, auch als ihr Direktor.

Dietzel veröffentlicht sein Tagebuch, das er seit 1955 geführt hat. Er hatte Kontakt zur künstlerischen und politischen Prominenz der DDR, über die er interessante Einzelheiten mitteilt. Die Affinität Stephan Hermlins für Ernst Jünger war demnach noch größer, als man vermuten konnte. Hermlin wäre gern der Begründer eines "linken Jüngerismus" geworden. Zu dem Einwand, die Erzählung "Auf den Marmorklippen" sei kein Beleg für die Distanz des Autors zu den Nazis, weil Jünger jede politische Absicht der Erzählung bestritten hatte (Marcel Reich-Ranicki argumentierte so noch 2003!), äußerte Hermlin 1975: "Jünger ist eben kein Mann, der sich ranschmeißt. Anderen wäre eine solche Interpretation sicher recht gewesen. - Und er hat Juden geholfen."

Zudem offenbart sich hier die Gedankenwelt eines DDR-Intellektuellen, der den Sozialismus als Prinzip bejahte und gerade deshalb an den Realitäten im Land immer stärker litt. Dietzel war Reise-kader, für DDR-Verhältnisse also ungeheuer privilegiert. Um so auffälliger ist es, daß sich auch bei ihm die Beobachtung Wolfgang Eng-lers bestätigt, daß die DDR-Bürger kaum politische Phantasie freisetzten. Der Grund wird in Dietzels Notizen deutlich: Jedes Nachdenken über politische Veränderungen führte unausweichlich zur offenen deutschen Frage zurück. Wer die Demokratisierung der DDR ernsthaft wollte, mußte letztlich ihr Aufgehen in der Bundesrepublik akzeptieren und anstreben. Vor dieser Konsequenz erschraken die meisten Systemkritiker. Blieben ein-zig die Hoffnung auf die Einsicht der DDR-Führung und der Auftrag an sich selbst, ihr diese Einsicht auf dem Umweg der ästhetischen Erziehung zu vermitteln. Mit dem Mauerfall war dieser Politikansatz gänzlich anachronistisch geworden. Die Fusion der Akademien in Ost- und Westberlin vollzog sich aus Dietzels Sicht als feindliche Übernahme. Seine Aufzeichnungen machen den großen Wählerzuspruch für die PDS als Folge viel-

facher Verbitterungen der Ost-Intelligenz nach der Wiedervereinigung plausibel. Er selber wäre Sozialdemokrat geworden - wenn man ihm nur bedeutet hätte, daß er dort willkommen sei. So wird das Tagebuch zur Chronik über einige der Fehler bei der Wiedervereinigung.

Ulrich Dietzel: "Männer und Mas-ken - Kunst und Politik in Ostdeutschland. Ein Tagebuch", Verlag Faber & Faber, Leipzig 2003, 365 Seiten, 29,70 Euro
 
     
     
 
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