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1989:

 
     
 
Staatliche Gemeinwesen bedürfen der Gründungsmythen. Mangelt es an "positiven" Traditionen, müssen Legenden aushelfen. Gerad die allzu vernünftig und pragmatisch konstruierte Bundesrepublik Deutschland kann, geh es um emotionsträchtige demokratische Traditionselemente, nicht wählerisch sein.

Der Wende-Herbst 1989 war in diesem Sinn ein Glücksfall, denn er bedient mit de "aufrechten Bürgerrechtler" das Bedürfnis nach dem Helden de Massendemokratie, er nährt zudem den Mythos
vom Primat des Politischen. Doch die Bedeutung der Bürgerrechtler für den Untergang der DDR wird weit überschätzt. Wede waren sie Auslöser der politischen Krise noch Schrittmacher während der Umwälzung. Ihr Geschichte ist eine Geschichte des Scheiterns.

Was heißt politische Opposition? Auf die alltägliche Art des Widerstandes in Form de Verzögerns, des Hinhaltens und der ironischen Kommentierung, auf die "Trägheit de Hirne, Herzen und Hände" gegenüber den Wünschen der Weltrevolution sei hie wenigstens hingewiesen. Herauszustellen ist, daß die SED nie die Verweigerung der Jugen in den Griff bekommen hat. Auf alles, was sich den pädagogischen Gängelungen der Parte entzog, reagierte diese neurotisch, witterte politischen Widerstand. Nicht unbegründet denn schnell konnten sich "negative Kräfte zusammenrotten": Nach eine Rock-Konzert in Ostberlin 1977 gab es bei Schlägereien mit der Polizei mehrere Tote. Al zu Pfingsten 1987 David Bowie am Brandenburger Tor vom Westen herübergrüßte, tobte nächtelang Straßenschlachten. Der Organisationsgrad der FDJ unter jungen Arbeiter tendierte gegen Null. Staatliche (geheimgehaltene) Umfragen unter Lehrlingen im Mai 198 ergaben, daß sich nur neun Prozent mit dem Marxismus-Leninismus identifizierten (be Studenten war der Anteil viel höher). Hätten sich mithin westliche Journaliste häufiger bei Fußballspielen von Chemie Leipzig oder Union Berlin umgesehen und seltene bei Christa Wolf und Stefan Heym nachgefragt, wäre ihre Verwunderung über Phänomene in Herbst 1989 weniger groß ausgefallen.

Kam der Zusammenbruch der DDR aus heiterem Himmel? Überrascht hat sicher, wie schnel die Sowjets bereit waren, den Satelliten preiszugeben. Der wirtschaftliche Niedergang abe war – gerade in der Provinz – unübersehbar gewesen. Inflationäre Tendenzen ungünstiger werdende Austauschrelationen mit westlichen Staaten, hohe Betriebs- un Staatsverschuldung, Devisenknappheit waren Indikatoren des Niedergangs, die Überdimensionierung bestimmter Industrien zeigte desaströse Wirkungen, die Altstädt zerfielen. Die Unzufriedenheit wuchs.

Die wirtschaftliche und politische Perspektivlosigkeit äußert sich in der schnel steigenden Zahl der Anträge auf "ständige Ausreise". 30 000 DDR-Bürge dürfen 1988 übersiedeln. Als das Reisen erleichtert wird – 1,2 Millionen Mensche unterhalb des Rentenalters können 1988 zu Besuch in den Westen –, verschärft sic die Lage: 10 000 kehren nicht zurück. Im ersten Halbjahr 1989 muß das MfS bei "ungesetzlichen Verlassen" der DDR eine Planerfüllung von 160 Prozent melden Und die Verweigerungshaltung im Land nimmt demonstrative Formen an, auch in Gestalt alle möglichen Subkulturen. Im November 1987 geht die Stasi gegen Mitarbeiter de Umweltbibliothek der Zionskirchengemeinde in Berlin vor. Zwei Monate später kommt e während der hochoffiziellen Luxemburg-Liebknecht-Demonstration in Ost-Berlin zu bekannten Transparent-Enthüllung: "Freiheit ist immer die Freiheit de Andersdenkenden"; es folgen Zuführungen (vorläufige Festnahmen), Verurteilungen Ausbürgerungen. Die glasnosthaltige Zeitschrift "Sputnik" verschwindet 1988 au dem Postvertrieb; dieses Verbot einer sowjetischen Auslandszeitschrift führt zu Verunsicherung vieler Genossen.

Anfang Mai 1989: Ungarn beginnt den Stacheldraht von seiner Westgrenze zu entfernen Ebenfalls wichtig: Ungarn tritt der Internationalen Flüchtlingskonvention bei. In der DD beantragen ungewöhnlich viele Menschen ein Visum für "die lustigst Baracke des Ostblocks". Die Kommunalwahlen am 7. Mai bringen dann die Ernüchterung auch bei denen, die an legal zu erreichende Veränderun-gen geglaub haben. Die Fälschungen können durch Teilnahme an der Auszählung aufgedeckt werden zahlreiche Klagen aber werden abgelehnt. Und dann folgt jener heiße politisch Sommer, der im Juni eingeleitet wird von Lobeshymnen der DDR-Presse auf die chinesische Genossen und deren Art, "Konterrevolutionen" niederzuwalzen.

Aber am 28. Juni deutet sich das Ende der DDR an. Der ungarische Außenminister Hor und sein österreichischer Kollege Mock zerschneiden den Eisernen Vorhang. Die Lagebilde aus Budapest dominieren fortan die Nachrichtensendungen. Der Druck auf die DDR-Regierun steigt, doch äußerlich reagiert sie mit morbider Stille auf ihren sich vollziehende Untergang: Hinter den Kulissen allerdings herrscht Hektik, und am 19. August geht ein Bruder-Freundschaft zu Ende. Während eines Festes der Pan-Europa-Union flüchten 60 DDR-Bürger unter den Augen ungarischer Grenzer nach Österreich. Es lohnt, einige weiter Ereignisse des Herbstes in Erinnerung zu rufen.

4. September: "Ungarn" dominiert die Westnachrichten; in Leipzig findet die erste Montagsdemonstration nach einem Bittgottesdienst in der Nikolaikirche statt: Von de etwa 1400 Teilnehmern wird gefordert: "Wir wollen raus!" Der Zug wird von de Polizei abgedrängt.

10. September: Die ungarische Regierung kündigt an, sie wolle DDR-Bürgern die Ausreise nach Westen gestatten. Der Gründungsappell eines "Neuen Forums" wir über die Westmedien bekannt; die Bürgerinitiative fordert den "gesellschaftliche Dialog".

11. September, ein Montag: 7000 Flüchtlinge verlassen kurz vor Mitternacht jubeln Ungarn. Pro Tag werden mehrere tausend folgen. Bei einer Demonstration in Leipzig werde elf Teilnehmer wegen "Zusammenrottung" in Haft genommen, mehr als hunder Menschen "zugeführt" und mit hohen Ordnungsstrafen belegt. Ein "Weimare Brief" von vier CDU-Mitgliedern an ihren Hauptvorstand zeigt sich beunruhigt durc das Problem der illegalen und legalen Ausreise, die den Kern der Gesellschaft betreffe und fordert den innerparteilichen Dialog.

12. September: Eine weitere oppositionelle Gruppe meldet sich zu Wort: "Demokrati jetzt!" Ihr Aufruf spricht von Krisenzeiten des Sozialismus: "Was die sozialistische Arbeiterbewegung an sozialer Gerechtigkeit und solidarische Gesellschaftlichkeit angestrebt hat, steht auf dem Spiel. Der Sozialismus muß nun sein eigentliche, demokratische Gestalt finden, wenn er nicht geschichtlich verlorengehen will Er darf nicht verlorengehen." Ebenfalls an diesem Tag erscheint der "Aufruf zu Gründung einer Sozialdemokratischen Partei in der DDR".

14. September: Bei einer Demonstration in Leipzig von mehr als tausend Menschen, vo allem Ausreisewilligen, werden Hunderte verhaftet. Eine Resolution Ostberline Schriftsteller verlangt angesichts der Ausreisewelle und aus "Sorge um die weiter Entwicklung zum Sozialismus" eine Kurskorrektur.

18. September, wieder ein Montag: Die Ausreise über Ungarn ist in vollem Gange. Die DDR versucht, potentielle Flüchtlinge schon an ihrer Grenze abzufangen. In eine Resolution von Rockmusikern und Liedermachern ist die Rede von "Sorge um da Land", "dem massenhaften Exodus vieler Altersgenossen"; gefordert werde Reformen, die den Sozialismus erhalten.

19. September: In elf der fünfzehn DDR-Bezirke wird die Tätigkeit des Neuen Forum offiziell angemeldet. Die Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR mahn Reformen an, um die Gründe für die Ausreise zu beseitigen. Die Bischöfliche Konferen stimmt zu, erteilt aber jeder "Wiedervereinigungsdiskussion und jede Antikommunismus" eine klare Absage.

22. September: Im "Neuen Deutsch-land" teilt das Innenministerium mit, de Antrag auf Bildung der Ver- einigung "Neues Forum" sei abgelehnt.

25. September: In der Bonner Botschaft in Prag halten sich fast tausend DDR-Bürge auf, die kein Visum nach Ungarn bekommen haben; in der Vertretung in Warschau sind es 400 Es ist Montag, in Leipzig demonstrieren etwa 8000 Menschen. Damit ist die Kontinuität de Proteste gewährleistet. Neben Rufen gegen frühere Festnahmen dominieren "Wir wolle raus!" und "Freiheit"; stärker ist nun das "Wir bleiben hier!" zu hören.

30. September: Bundesaußenminister Genscher teilt in Prag den mittlerweile 550 Menschen die von der DDR geneh-migte Ausreise per Zug mit; 800 dürfen aus der Bonne Botschaft in Warschau ausreisen. Beide Botschaften füllen sich schnell wieder. 2 Oktober: Das "ND" macht drohend mit einem Foto von Deng Xiao-Ping und Ego Krenz, der in China weilt, auf. Wieder De-monstration in Leipzig: Nun nehmen scho 20 000 Menschen teil. Gefordert werden vor allem Verän-derungen im Land Zu Schlagstockeinsätzen sieht sich die Polizei bei Kundgebungen in Dresden und Plauen jeweils etwa 10 000 Teilnehmer, veranlaßt. Der Gründungsaufruf eine Vereinigung "Demokratischer Aufbruch" (DA) wird bekannt. Er beginnt: "Ein Unruhe geht durch unser Land. Immer mehr Menschen verlassen es, sie haben die Hoffnung au ein sinnvolles Leben hier aufgegeben." Verlangt werden eine "Reform un Erneuerung des sozialistischen Systems in der DDR". Auf der Gründungsveranstaltun wehrt sich Friedrich Schorlemmer gegen die Forderung, die führende Rolle der SED in Frag zu stellen.

3. Oktober: Wieder sind 10 000 Menschen in der Botschaft in Prag, die ausreise dürfen via DDR. Der paß- und visafreie Verkehr mit der CSSR wird aber ausgesetzt.

4. Oktober: Am Abend demonstrieren in Dresden 30 000 Menschen, vor alle Ausreisewillige, die am Hauptbahnhof auf die Züge aus Prag warten. In stundenlange Straßenschlachten bleibt die Polizei nur aufgrund äußerster Mittel Herr der Lage Achtzehn DDR-Bürger suchen in der US-Botschaft in Ost-Berlin Zuflucht. Ein Aufruf de Neuen Forums beteuert: "Wir haben nichts zu tun mit antikommunistische Tendenzen."

5. Oktober: Wieder fahren Züge mit Tausenden von Prag nach Hof durch Dresden, wo 110 Menschen nach Schlägereien verhaftet werden. Einen Tag später, am Vorabend des 40 Jahrestages der DDR-Gründung, kommt es in zahlreichen Städten zu "Störungen vo Volksfesten". Wieder machen Straßenschlachten in Dresden Schlagzeilen. Auch das Neu Forum nutzt den Jahrestag zu einer Erklärung: "Wir protestieren gegen die Versuch der Regierung, uns als Sozialismusfeinde darzustellen", nicht das Neue Forum, sonder die Untätigkeit der SED gefährde den Sozialismus. Es folgt der Appell an die SED-Mitglieder, ihre führende Rolle "endlich auszuüben".

7. Oktober: Ein Großaufgebot der Polizei sichert in Ost-Berlin die Staatsfeier, an de Gorbatschow teilnimmt. Nach 17 Uhr sammeln sich mehr als 3000 Menschen am Spreeufer un rufen: "Gorbi, hilf uns!"; sie werden zum Prenzlauer Berg abgedrängt. Dor verlieren die Genossen von der Volkspolizei die Beherrschung, die Situation eskaliert in eine reine Prügelorgie mit Hunderten von Verletzten. In Dresden wird ein Sitzstreik vo 5000 Personen mit Schlagstöcken beendet, in Leipzig demonstrieren 7000 fü "Freiheit". Die Sozialdemokratische Partei (SDP) gründet sich in Schwante in Brandenburg konspirativ.

8. Oktober: Nach einer Fürbitt-andacht in der Ostberliner Gethsemane-Kirche kommt e erneut zu schlimmen Übergriffen der Sicherheitskräfte. In Dresden demonstriere 10 000 Menschen. Einen Tag später sind in der SED auf kommunaler Ebene Tendenzen de Aufweichung spürbar. Deutlich wird das in Dresden, auch in Leipzig. Und dort wird de Machtkampf an diesem Montag entschieden: Die Menschenmenge hat seit Ende September star zugenommen. Es ist nun die Frage, ob der Staat, um den Zustrom zu stoppen, Gewal einsetzen werde. Die Situation ist äußerst gereizt. Doch mehr als 80 00 Demonstranten machen deutlich: Das Volk ist auf den Straßen. Die Staatsmacht verspielt a diesem Tag die Staatsräson.

12. Oktober: In einer Erklärung des Politbüros des ZK der SED wird Reformbereitschaf signalisiert. Die Vorsitzenden der Blockparteien bekräftigen bei Honecker ihr "engagierte Mitverantwortung für den Sozialismus". In einer Stellungnahme de Neuen Forums wird die Gesprächsbereitschaft der SED begrüßt: "Dieser echte .. Dialog hat ... zu erfolgen bei Anerkennung der Eigenstaatlichkeit der DDR ... auf de Boden der Verfassung."

Peter D. Krause wurde 1964 in Weimar geboren und war Mitbegründer des Neuen Forums in Jena 1989. Krause promovierte nach dem Studium der Geschichte und Germanistik im Fac Rhetorik.

Montag, 16. Oktober, Leipzig:
 
     
     
 
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