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Verbrechen an Millionen Deutschen

 
     
 
Der folgende Artikel erschien am 20. April in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und des Autors drucken wir ihn nach.

Es ist still geworden um die deutschen Vertriebenen. Das ist auf den ersten Blick nicht verwunderlich. Die mehr als zwölf Millionen Deutschen, die am Ende des Zweiten Weltkrieges und danach aus den Ostgebieten des Reiches und aus anderen Staaten vertrieben wurden, sind seit Jahrzehnten in die bundesdeutsche Gesellschaft eingegliedert. Die Vertriebenen-Partei "Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten", die von 1953 bis 1957 im Bundestag vertreten war, besteht schon lange nicht mehr. Die Grenzfrage ist mit dem Zwei-plus-vier-Vertrag und dem deutsch-polnischen Grenzvertrag geklärt. Der zwei Millionen, die bei Flucht und Vertreibung
umkamen, wird alljährlich am Volkstrauertag gedacht.

Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft schreitet die Aussöhnung mit den osteuropäischen Staaten voran. Kürzlich hat erstmals eine Delegation ostdeutscher Freundeskreisen offiziell polnische Abgeordnete und Regierungsbeamte getroffen. Nach Angaben der Vertriebenen gab es dabei keine Mißtöne. In den östlichen Staaten beginnt man, sich mit der Vertreibung zu beschäftigen, und begreift das deutsche Erbe mehr und mehr als Chance und Teil einer gemeinsamen europäischen Identität.

In Deutschland ist das anders. Eine Auseinandersetzung mit dem für die Nation einschneidenden Ereignis des Verlustes der Ostgebiete und der völkermordartigen Vertreibung hat bisher nicht stattgefunden, und dabei bleibt es. In den Lehrplänen der Schulen und im Unterrichtsalltag spielen die Vertreibung und die deutsche Geschichte im Osten Europas kaum eine Rolle. Städte mit langer Geschichte wie Danzig, Breslau und Stettin werden von deutsch sprechenden Polen mittlerweile häufig und wie selbstverständlich bei ihrem deutschen Namen genannt, von deutschen Behörden und Medien dagegen nur ausnahmsweise.

Die Bezeichnung "Ostdeutschland" wird oft in einer die Geschichte verfälschenden Weise verwendet. Die sogenannte Bodenreform fand nach dem Krieg in der Sowjetischen Besatzungszone im damaligen Mitteldeutschland und nicht in Ostdeutschland statt, das zu jener Zeit unter überwiegend polnischer Verwaltung stand.

Die Vertriebenen, ihre Organisationen und Stiftungen tauchen in der öffentlichen Wahrnehmung vorwiegend als Störenfriede und Verhinderer einer Aussöhnung auf, obwohl das Gegenteil richtig ist. Ungeachtet radikaler Äußerungen einzelner, sind die Vertriebenen und ihre Nachkommen aufgrund unzähliger Kontakte mit der alten Heimat die wahren Brückenbauer zwischen Deutschland und den östlichen Nachbarn.

Die politische Führung Deutschlands hat sich Verdienste um die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen aus aller Welt erworben. In einer vom Bundestag einstimmig angenommenen Beschlußempfehlung zu einer "Konvention gegen Vertreibung" von 1994 wird die Bundesregierung aufgefordert, "über die Durchsetzung des Rückkehrrechts in die Heimat hinaus zu prüfen, wie Wiedergutmachungs- und Entschädigungsverpflichtungen der Vertreiber geregelt werden können". Konsequenzen für die eigenen Landsleute gedenkt man aber nicht zu ziehen. Die Bundesregierung hat zwar mehrmals gesagt, sie habe die Vertreibung der Deutschen und deren entschädigungslose Enteignung immer als völkerrechtswidrig angesehen und diesen Standpunkt auch gegenüber Polen und der Tschechischen Republik "stets mit Nachdruck vertreten". Die Regierungen dieser Staaten seien aber nicht bereit gewesen, Entschädigungsansprüche Deutscher anzuerkennen. Die Bundesregierung habe sich stets "im Rahmen des Möglichen für die berechtigten Anliegen der Vertriebenen eingesetzt und wird es weiterhin tun". Niemand wagt offen zu sagen, daß die Vermögensfrage ebenso wie die Frage einer Rückkehr in die alte Heimat wohl so lange ungeregelt bleiben wird, bis kein Vertriebener mehr am Leben ist.

Das alles wäre nicht ungewöhnlich, wenn es nur um die geistige und finanzielle Unterstützung einer aussterbenden Randgruppe ginge, deren Lebenskatastrophe lange zurückliegt und die im Zusammenhang mit allgemeinen Sparmaßnahmen Kürzungen hinzunehmen hat. Es geht aber um mehr. Der damalige Hohe Kommissar für Menschenrechte bei den Vereinten Nationen, Lasso, hat 1995 darauf hingewiesen, daß "die demographischen Katastrophen von heute, insbesondere jene, die als ,ethnische Säuberungen‘ bezeichnet werden, wahrscheinlich nicht in dem Ausmaß geschehen wären, wenn die Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg der erzwungenen Flucht und Vertreibung der Deutschen mehr Aufmerksamkeit gewidmet hätten".

In einer Zeit, in der wieder Millionen Menschen auf der Flucht sind, sollte wenigstens die Erinneng an die große zivilisatorische Wunde der Vertreibung der Deutschen wachgehalten werden, um künftiges Unrecht zu verhindern. Wenn gelehrt wird, daß Luther aus Ostdeutschland und Kant aus Rußland stammen, daß Tilsit in Holland liegt und es ein Landsberg nur am Lech gibt, daß die wenigen Deutschen in jenen Gebieten verdientermaßen umgesiedelt wurden, dann wird klar, was die Vertriebenen heute erleben: eine zweite Vertreibung. Reinhard Müller (FAZ)

 
     
     
 
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