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Marinetta Jirkowski hatte das Leben im Osten satt. Sie wollte nicht mehr gegängelt werden, sie wollte sich nicht vorschreiben lassen, was sie lernen darf und was sie zu glauben hat. Und sie wollte sich nicht wie ein Arbeitstier in den sozialistischen Produktionsprozeß eingliedern.
Deswegen beschließt die 18jährige, die aus einem kleinen Dorf bei Berlin stammt, in den Westen zu fliehen. Mit ihrem Verlobten und einem Freund erkundet sie am Abend des 21. November 1980 die Grenzbefestigungen bei Hohen Neuendorf. Die drei sind sich einig: In der kommenden Nacht werden wir es versuchen.
In der darauffolgenden Nacht pirschen sie sich an die erste Mauer heran. Sie haben Leitern dabei. Die erste Mauer bezwingen sie zusammen, auch den Stacheldraht. Über die dritte und letzte Mauer, die sie vom sicheren Territorium West-Berlin s trennt, kommen nur die beiden Männer, denn Marinetta Jirkowski ist zu klein, kommt mit den Händen nicht zum Mauersims. Der Verlobte versucht sie hochzuziehen. Da fallen Schüsse - nicht einer oder zwei, sondern 27 an der Zahl. Die Grenzsoldaten haben ganze Arbeit geleistet. Die Schwerverwundete schaffen sie auch noch ins Krankenhaus. Hier verstirbt Marinetta Jirkowski, geboren 1962, in einer dunklen Novembernacht.
Hinterher versucht das Ministerium für Staatssicherheit (MfS), westliche Presseberichte zu unterbinden. Unverzüglich machen sich Handlanger des Spitzelstaates daran, sämtliche Bilder der Getöteten bei Verwandten und Freunden zu beschlagnahmen.
Die Geheimen in der Normannenstraße erwägen, einer westlichen Redaktion ein falsches Bild zuzuspielen. Um die Berichterstattung im freien Westen zu diskreditieren, die mit gefälschten Fotos arbeite. Das Unterfangen schlägt aber fehl, weil die beiden Männer, denen die Flucht gelungen ist, ihr Schicksal publik machen.
Auf der Westseite der Mauer haben Angehörige der Getöteten dann ein Holzkreuz angebracht, das an ihr Schicksal erinnern sollte. Dieses Holzkreuz wurde jedoch von einem IM aus dem Westen entfernt und nach Ost-Berlin verbracht.
Die ganze Geschichte der Marinetta Jirkowski hören diejenigen, die zur Lesung von Mareen Walus gehen. Die junge Frau steht an der Bernauer Straße. Früher verlief hier die Mauer. Ein kleines Stück der Mauer steht noch. Hier gab es spektakuläre Tunnel. Hier ist auch das landeseigene Mauermuseum. Wenn das (private) Museum am "Checkpoint Charlie" für das Sensationelle und das Internationale steht, dann ist die Bernauer Straße der richtige Ort, um die Mauer als Stätte des deutschen Einzelschicksals zu zeigen.
Mareen Walus verliest aus Stasiakten, aus Unterlagen von Grenzsoldaten. Fünf Biographien trägt sie vor. "Der ganze Zyklus dauert eine Stunde", sagt sie. Es kommen Berliner und Berlin-Touristen. Der Andrang hält sich an diesem heißen Sonntag in Grenzen.
Veranstalter der Mauer-Begehung an der Bernauer Straße ist der Verein "Berliner Mauer-Gedenkstätte". Am Nordbahnhof, wo die Tour startet, steht Dr. Günter Schlusche von eben diesem Verein. Er erläutert, warum das Erinnern gerade an dieser Stelle so wichtig ist: "Hier sind zwölf oder 13 Leute getötet worden."
Jetzt ist ein Verzeichnis geplant, in dem vermerkt ist, wer unter welchen Umständen ums Leben gekommen ist. Erst die Aufarbeitung der Stasi-Unterlagen hat dies möglich gemacht.
"Wie haben die Familien gelebt, deren Haus genau an der Mauer stand?" fragt er. Stück für Stück wurden die Bewohner der Grenzhäuser umgesiedelt, mußten ihre Wohnungen räumen. Darunter auch die Familie der langjährigen brandenburgischen Sozialministerin Regine Hildebrandt.
Die DDR-Grenzpolizei handelte so, weil immer wieder Anwohner der unmittelbaren Mauer zu fliehen versuchten. Jeder kennt das Bild der alten Frau kurz vor dem Sprung, die sich noch am Fenster festhält, während der Grenzer schon hinter ihr her ist.
Schlusche ist in dem Verein für Planungs- und Baukoordination zuständig. Er hat mit Bauherren zu tun, die nach der Wende die Grundstücke erworben haben. Trotz Erteilung eines Bauantrages hat der erste bereits verzichtet, um eine große Mauergedenkstätte zu ermöglichen, die vom Nordbahnhof bis zum Mauerpark reicht.
Ingenieur Schlusche möchte die Mauer und die dahinterliegenden Grenzbefestigungen zeigen - die Mauer als ganzes also. Das Grenzregime war sehr tief gestaffelt, umfaßte mehrere Mauern, Zäune, Stacheldrähte. Im Laufe der Jahre wurden die Befestigungen der Grenze immer undurchdringlicher.
In den kommenden Wochen soll weiter darüber diskutiert werden, wie das Gedenken an die Mauer aussehen könnte. Die Bürger sind herzlich dazu eingeladen: www.berlin.de/mauerdialog . Am 5. September um 19 Uhr soll eine abschließende Bürgerversammlung im Mauermuseum (Bernauer Straße 111) stattfinden. |
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