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Von der Konsensdemokratie zur Räterepublik

 
     
 
Es steht schlecht um den Parlamentarismus in Deutschland, sehr schlecht sogar und damit um die vom Grundgesetz gewollte Form der Demokratie in Deutschland. Voraussetzung einer lebendigen parlamentarischen Demokratie ist, daß sich Opposition als "Regierung von morgen" begreift, was umgekehrt heißt, daß die Regierung die "Opposition von morgen" ist. Die beiden großen Parteien, Union und Sozialdemokraten, sind von solchem Selbstverständnis derzeit weit entfernt.

Für die CDU ist die Vorhersage ihres leider viel zu früh verstor-benen Außen- und Verteidi-gungspolitikers
Werner Marx eingetroffen, der 1973 bei der Wahl Kohls zum Bundesvorsitzenden sagte, der werde lange oben bleiben, und wenn er einst abtrete, werde von der Partei nur noch ein Trümmerhaufen übrigbleiben. Nach der Töpfchenwirtschaft des Herrn der schwarzen Kassen personell erschöpft und konzeptionell paralysiert, wird der Union so lange die Strategie zur Rückgewinnung der Regierungsverantwortung fehlen, wie sie nicht die Kraft zur personellen Erneuerung, zur Bewältigung ihrer euromanischen Vergangen-heit und zur Überwindung des auf die Brüsseler EU fixierten Westzentrismus findet, der im Kalten Krieg gerechtfertigt und schließlich erfolgreich war. Doch das Ende des Kalten Krieges liegt über ein Jahrzehnt zurück, und die neue Lage setzt die Akzeptierung der demokratischen Nationalstaaten als Grundlage des größeren Europa ebenso voraus wie die Erkenntnis, daß in diesem neuen Europa die deutsche Rolle weniger darin besteht, der größte Nettozahler zu sein, als vielmehr der klügste Ratgeber der west- und südeuropäischen Partner im Umgang mit dem Osten.

Die oppositionelle Strategie zur Rückgewinnung der Regierungs-verantwortung muß außerdem von der Erkenntnis ausgehen, daß der Wähleranteil der Unionsparteien in der Zeit der Kanzlerschaft Kohls (und seiner Europakompetenz!) von 1983 bis 1998 kontinuierlich von 48,8 auf 35,1 Prozent zurückgegangen ist, so daß der Gedanke an absolute Mehrheiten hinter denen zur Bildung eines nichtsozialistischen Lagers zurückstehen muß. Die Hilflosigkeit der Union gegenüber dem undifferenzierten sozialistischen "Kampf gegen Rechts", statt, was richtig wäre, "gegen Gewalt und Extremismus", fördert die Isolie-rung einer Partei, die immer auch die demokratischen Kräfte rechts der Mitte repräsentierte.

Die Sozialdemokraten hingegen sind in einer wesentlich beque-meren Lage – auf die Rolle einer Opposition wären sie aber genausowenig vorbereitet, wie die Union derzeit auf die der Regierung. Viel schneller als zu erwarten war, mutierte die SPD nun zu einem Kanz-ler-Wahlverein. Sie erscheint ohne Visionen, der Beliebigkeit ergeben, genügsam damit, "dran" zu sein und ohne jede streitbare Diskussion. Koalitionspartner stehen Schlange bei ihr: Die Grünen dürfen auf Leihstimmen hoffen, die FDP auf ihre Lieblingsrolle, der Vertrauensmann der "Wirtschaft", sprich der Arbeitgeber, in einer Koalition mit der "Arbeitnehmerpartei" zu sein, und die kommunistische PDS erhielt für alle Fälle die "demokratische Weihen".

Angesichts dieses Zustands der beiden Großparteien ist es kein Wunder, wenn es schlecht steht um die Autorität des Bundestages in Deutschland. Ist er noch das Forum der deutschen Politik? An die Stelle des Plenarsaals sind "Talkshows" und Redaktionen getreten, in denen die Medien Politik nicht nur in Szene setzen, sondern machen, statt über sie aus dem Bundestag zu berichten.

Es ist schwer zu entscheiden, ob das alles Ursache oder Folge einer verhängnisvollen Politik des derzeitigen Bundeskanzlers ist. Hat der doch ein "Konsensdemokratie" genanntes Sy-stem von Räten und Kommissionen entwickelt, das einer Mißachtung parlamentarisch-demokratischer Strukturen gleichkommt. Von der Gestaltung des Schloßplatzes in der Hauptstadt über die Zukunft der Bundeswehr bis zur Einwanderungsproblematik: flugs beruft Schröder eine "Kommission", oder er gründet zur Bewältigung der Genforschung ganz und gar einen "Ethikrat", der gewissermaßen ex cathedra verkünden soll, was Sache ist. Ob "Bündnis für Arbeit" oder "Atomkonsens", alle Interessengruppen sind "eingebunden", fühlen sich "gebauchpinselt", erwerben sich Zutrittsrechte zu den Medien, und wehe, im Parlament ist jemand dagegen. Dieses darf das Ergebnis "absegnen" und bestenfalls noch ja oder nein dazu sagen. Tatsächlich oder vermeintlich ist ja aller "Sachverstand" schon eingeflossen, bevor das Parlament gemäß seinen verfassungsmäßigen Rechten und Pflichten das Problem angehen konnte. So trickst eine übermächtige Regierung das Parlament aus. Da wäre es zu erwarten, daß wenigstens die Opposition die Rechte der Volksvertretung und damit die der parlamentarischen Demo-kratie gegen diese Masche verteidigt. Doch davon ist derzeit leider nicht viel zu verspüren.

Also nähert sich der Bundestag in seiner Wirksamkeit mehr und mehr dem "Europaparlament" an. So lautet bekanntlich die Tarnbezeichnung der Abgeordnetenversammlung, die seit vielen Jahren zwischen Brüssel und Straßburg hin- und herpendelt und der EU eine parlamentarisch-demokratische Fassade gibt, während der Europäische Rat und die Kommission die Politik machen und das Geld verteilen. Umso gefährlicher erscheint nunmehr der Weg in die "Räterepublik" des Bundeskanzlers und Vorsitzenden der SPD.

 
     
     
 
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