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Wenn das Jesuskind streikt

 
     
 
Was fällt Dir beim Stichwort Weihnachten und Familie ein?“ fragt der Vater die älteste Tochter in Madrid. „Belén vivo - lebendige Krippe“, kommt es sofort durch die Leitung. Man hat sich daran gewöhnt, viel in kurzer Zeit zu sagen, schon wegen der Rechnung. Aber das kam wirklich spontan, und in der Tat, die Krippenspiele im Hause Müller haben es in sich.

Es geht nicht nur um die eine Szene. „Das ist langweilig, immer nur in einen Stall zu gucken“, meinte Tobias, dem allerdings auch keine Starrollen zugetraut wurden, nur manchmal durfte er den Oberhirten spielen. Man nahm sich mehrere Szenen vor, und einmal - unvergessen - gab es noch eine Zugabe. Die Kinder spielten, wie immer in eigener Regie, die „Flucht nach Ägypten“. Die Szene: Unter dem Tisch stand Tobias, damals zehn Jahre alt, auf allen vieren und sagte, nein, stieß ständig aus: „Iah, iah, iah“. Vor dem Tisch saßen Arnaud (sechs) als der heilige Josef und David (acht) als die „noch heiligere“ Maria, zwischen ihnen eine Puppe, denn der dreijährige Nathanael, den alle Momo nennen, wollte diesmal nicht das Jesuskind spielen. Er streikte.

Plötzlich schwebte ein großes, weißes Bettlaken durch die Wohnzimmertür, so daß es selbst Tobias den Doppellaut verschlug, und aus dem Engelstuch klang feierlich die Stimme Thibauts (elf): „Josef, Josef, nimm eilends das Kind und flieh‘ nach Ägypten, denn die Häscher des Herodes trachten ihm nach dem Leben.“ Arnaud blickte hoch und sagte: „Und was mach‘ ich mit Maria?“ Die wußte schon Bescheid: „Ich komm doch mit, Mann!“ Dann setzte sie sich auf Tobias, der inzwischen seine Stimme wiedergefunden hatte, Josef legte die Puppe drauf, und alle zogen eilends und mit lautem Iah aus dem Wohnzimmer, Richtung Ägypten. Der Applaus war euphorisch.

Weihnachten ist in Großfamilien ein doppeltes Fest. „Es wird nicht nur die Familie von Bethlehem, sondern auch die eigene Familie gefeiert.“ Natürlich bezeichnet manch einer, wenn die Vorbereitungen intensiver und die Stimmungen gespannter werden, das Fest der Liebe auch schon mal mit dem Namen der notdürftigen Reste von Ochs und Esel, die es damals auch im Stall gegeben haben muß. Aber das ist nicht spezifisch und auch nicht von Dauer.

Die Vorbereitung macht Freude. Man weiß, daß man eben nicht elf Krawatten bekommt. Man bekommt Kunstwerke. Der eine schreibt ein Gedicht über seine Familie und trägt es vor. Das ist dann der Moment, wenn die Mädchenfraktion weint. Die andere malt mit Öl eine Szene, von der sie weiß, daß sie dem Empfänger gefällt, zum Beispiel ein Schiff in hohen Wellen. Die Kleinen basteln, die Größeren zeichnen, die ganz Großen lassen sich etwas einfallen. So bekam der Vater einmal eine Weihnachtstüte mit lauter Papierschnitzeln drin und auf jedem Stückchen stand das Wort „Macht“: Eine Tüte voll Macht. Dazu noch ein Zettel: „Ganz viel Macht - greif zu, wenn du es für nötig hältst.“ Die Tüte steht noch heute sichtbar im Büro und erinnert den Besitzer an das Wort von Pascal: „Die eigentliche Aufgabe der Mächtigen ist es, die ihnen Anbefohlenen zu schützen.“

Das Macht-Geschenk erklärt sich vielleicht auch aus dem väterlichen Bemühen, an Weihnachten den Schutz zunächst mal der Ordnung an sich zu widmen. Wie war das früher noch so einfach, als es nur fünf oder sechs Kinder festlich zu managen galt! Da war auch noch ein getragenes Klavierstück, ein Weihnachtsgedicht am Baum stehend oder auch die schön vorgel
esene Geschichte von Bethlehem drin, bevor der Run auf den Paket-Berg unter dem Baum losging. Irgendwann aber war Schluß mit der Hoffnung, jedem Menschen guten Willens leuchte es von selbst ein, daß geben seliger ist als nehmen. Und das war auch der Moment, da die Ordnungsmacht meinte, für einen gesitteten Ablauf des Festes sorgen zu müssen. Dazu gehörte nach dem Festschmaus und der Bescherung auch die Mitternachtsmesse. Einige sprachen von der Nachtmesse mitten im Spiel - gingen aber mit und schliefen nicht selten während der Messe ein. Auch hier zählt, so tröstet sich der Vater nachträglich, der olympische Gedanke: Hauptsache dabeigewesen.

Der gelegentlich verschlafene Höhepunkt des Festes ist auch eine Frage der Information, des Nachdenkens und der Lebensphilosophie. Zur Information können Eltern manches beitragen. Da wir ein paar Jahre in Straßburg gelebt haben und zwei der zehn Kinder dort geboren sind, wurde eine Zeitlang gern die Geschichte vom „Paradiesbaum“, dem Vorläufer des Weihnachtsbaumes zum besten gegeben. Denn aus Straßburg ist das erste schriftliche Zeugnis vom Weihnachtsbaum im Wohnzimmer überliefert. Es datiert aus dem Jahre 1605. Zwar gab es schon lange den Paradiesbaum, aber aus der reichen Bürgerstadt am Rhein wurde geschrieben, wie die Bürger am 24. Dezember Äpfel an die grünen Zweige banden. Der Paradiesbaum mit den Äpfeln wurde Adam und Eva zum Verhängnis, die Krippe daneben enthielt den neuen Menschen, der die Erlösung brachte. Die Straßburger Haus-Chronik erzählt, wie die Sache mit den Äpfeln sich weiter entwickelte: „Auff Weihnachten richtet man Dannenbäum zu Straßburg in den Stuben auff, daran henket am Rossen aus vielfarbigem Papier geschnitten, Äpfel, Oblaten, Zischgold, etcetera.“

Den Baum haben wir mittlerweile zu großen Zweigen in einer Vase verkümmern lassen, das ständige Geknabbere an ihm war zu nervig. Dafür nimmt die Krippe mehr Platz ein. Eine kleine Landschaft entsteht. Erst recht, seit Annabelle in Spanien herrlich natürliche Figuren findet, die sie selber anmalt. Ein junger Josef ist dabei, eine erschöpfte Mutter mit glücklich entspanntem Gesicht. „Eine Geburt ist ja kein Zuckerschlecken.“

Realistisch soll es sein, lebensnah. Das prägt das Ambiente. Zum Realismus gehört auch, daß in einer großen Familie nicht jeder jedem großartige Dinge kaufen kann. Überhaupt: Nicht die Geschenke für jeden einzelnen stehen im Mittelpunkt, sondern die Freude über das Geschenk der Gemeinsamkeit. „Ich wünsche mir“, meinte Momo erst neulich, „daß wir an Weihnachten alle da sind, daß wir gemütlich beisammen sitzen und miteinander reden und viel Freude haben.“ Arnaud schrieb vor zwei Jahren in einem Schulaufsatz über das Weih-nachtsfest: „Alle kommen. Alle sind da. Und wenn einer nicht kann, weil er kein Geld für die Reise hat, dann macht mein Vater es doch irgendwie möglich.“ Tobias schenkte einmal, es war das Eselsjahr, ein aktuelles Familienfoto, über das er mit roten Buchstaben schrieb: „Wir halten zusammen.“ Die beiden großen Mädchen schenken ihrer Mutter seit mehreren Jahren schon das Festmahl. Sie kaufen, kochen, bereiten alles zu, decken, nein, schmücken den langen Tisch mit Kerzenleuchtern, Kristallgläsern und feinem Besteck und verleihen dem Wohnzimmer einen feierlichen Glanz. Sie schenken ihren Genius, und das hat keinen Preis.

Seit die Größeren darauf aufpassen, daß die Kleinen die Pakete an der Krippe in Ruhe lassen, kann auch der Vater sich seinem Geschenk für alle widmen. Er schreibt eine Kurzgeschichte. Der Held dieser Geschichten ist Pajazzo, der Clown. Eigentlich ein ganz gewöhnlicher Clown bis auf den Umstand, daß Pajazzo eine gewisse Nachdenklichkeit pflegt und dabei zu Erkenntnissen gelangt, die in der Hektik des Alltags oft verlorengehen. Über den sinnierenden Pajazzo läßt sich mancher Gedanke vermitteln und aktualisieren. Der Clown schafft Distanz zu den Dingen der Welt. Insofern gehört er schon zu „Belén vivo“, dem lebendigen Krippenspiel. Er ist Tradition. Leider hat sich auch die Tradition verfestigt, daß es zu Weihnachten einen Schuldenerlaß gibt. Aber immerhin werden in den Wochen vor Weihnachten keine Kredite bei der „Pery-Bank“ (abgeleitet von Père - Vater) mehr vergeben. Das Gekaufte ist mit „echtem“ Taschengeld erstanden. Dafür hat schon einer versucht, das Copyright für Pajazzo in klingende Münze zu verwandeln. Schließlich sei die Geschichte ein Geschenk und wenn der Autor sie verkaufen will, müßte es doch eine Beteiligung am Honorar ge- ben ...

Gesungen wird eher wenig im Hause Müller. Den Jungs fehlt dazu die nötige Stimme. Pavarotti oder Placido Domingo klingen schon besser, auch wenn sie „mal nur aus der Dose“, also dem Musikschränkchen, kommen. Auch die Kinderchöre von der Kassette versetzen manch äußerlich rauhes Herz in innere Schwingung. Da brummt schon mal der eine oder andere mit, aber gerade unter dem Level der allgemeinen Erträglichkeit. Oder es kommt zu plötzlichen Freudenausbrüchen von drei oder vier Verwegenen, die sich aus der Schule und der frühen Kindheit an Texte erinnern.

Stille Nacht herrscht, wenn Mimi und Vanessa ein paar Stücke auf dem Klavier oder der Hammondorgel spielen. Ende November hat David die alten Tonbänder aus Vaters Jugendzeit entdeckt. Tagelang hörte und bastelte er in seinem Zimmer. Vermutlich wird es nach Festessen und Mitternachtsmesse eine kleine Oldie-Party geben mit Beatles, Stones und Elvis. Das ist der Anfang einer Art Machtübernahme. Die anschließende Fete mit erstaunlichen Tanzeinlagen dauerte letztes Jahr bis in die frühen Morgenstunden. Mimi, jetzt zehn Jahre alt, erklärt gern ihre Geschenke. Der Engel auf dem gemalten Bild ist so klein, weil der Himmel so groß ist. Und der gebrannte Igel aus Ton sehe zwar aus wie ein Dino, „ist aber in Wirklichkeit ein Igel, weil ich einen Igel machen wollte“. Und der Brief für Vanessa - eine Kopie von einem Foto mit ihr, auf das sie selber schrieb: ich hab dich lieb - steckt deshalb im Rucksack des kleinen Pandabären, weil sie keinen Briefumschlag gefunden hat und beim Papa nicht schon wieder an den Schreibtisch wollte, da seien im Moment sowieso keine Süßigkeiten mehr drin.

Die Mutter überraschte sie mit der Frage: „Was ist Weihnachten am wichtigsten?“ Nach einer längeren Denkpause bekam Mimi die Antwort: „Daß alle etwas von der Wärme der Liebe spüren, um sie anderen weiterzuschenken.“ Für sie ist am wichtigsten, daß ihre zwei großen Schwestern, Annabelle und Vanessa, da sind. Da spürt sie diese Wärme, denn „sonst sind immer nur die Jungs da“. Die Besinnung der gemeinsamen Weihnachtstage ist für alle eine Chance. Beziehungen werden zurechtgerückt, in den Gesprächen und Bemerkungen findet jeder seinen Platz wieder. Das „Machtgefüge“ wird stabilisiert, nicht unter den einzelnen, sondern in jedem einzelnen. Vielleicht ist es das, was die Gemeinsamkeit zu einem Stückchen Herzensfrieden werden läßt. Ich höre es schon mit dem ironischen Unterton: „Ist nicht ein Stück Belén vivo in jedem von uns?“ - Aber das jugendliche Lachen über diese Frage im Psychologenjargon versteckt nur notdürftig die Vorfreude auf „die interessanten Gespräche und die friedliche Stimmung im Haus“ (Momo), also eigentlich doch auf das persönliche Krippenspiel in jedem von uns. 

Martine und Maria Klausner haben zehn Kinder. Die Weihnachtsgeschichte ist ein Auszug aus dem Kapitel „Weihnachten und andere Feste“ ihres Anfang März erscheinenden Buches „Abenteuer Familie - Erziehung mit Liebe ist immer ein Erfolg“. Das Buch erscheint im Sankt Ulrich Verlag (86152 Augsburg, Hafnerberg 2) zum Preis von 18,90 Euro, ISBN 3-929246-78-3.

„Und was mach’ ich mit Maria?“: Die Großfamilie Müller vor ihrem Haus bei Bonn

 
     
     
 
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