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Wie beurteilen Sie die Haltung der Bundesrepublik Deutschland zum Münchner Abkommen von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis heute?
Wolfgang Schlüter: Die BRD hat in dem Vertrag von 1973 [Prager Vertrag, der das Münchner Abkommen für nichtig erklärte] eine völkerrechtliche Position aufgegeben, die nicht aufgegeben zu werden brauchte. Die BRD sieht eine Rechtfertigung dieser Haltung in der politischen Lage, in der sie sich heute befindet. Sie war damals noch mehr von den Siegermächten abhängig als heute. Vom Sachverhalt her war die Anerkennung der Nichtigkeit ex tunc ["von damals an"] völkerrechtlich nicht gerechtfertigt. Der Vertrag ist nicht unter Drohung und Gewaltanwendung zustande gekommen, sondern die Abtretungserklärung der tschechoslowakischen Regierung erfolgte aufgrund einer Note Großbritanniens und Frankreichs. Der Vertrag von 1973 ergab auch Schwierigkeiten, die die Staatsangehörigkeit der Sudetendeutschen betrafen. Hier mußte die BRD neue Gesetze schaffen, um die Staatsangehörigkeit zu regeln. Außerdem ergeben sich aus der möglicherweise vorschnellen Handlung der bundesdeutschen Regierung im Jahre 1973 nunmehr Schwierigkeiten bei der Entschädigung von Enteignungen und bei den Bemühungen der Sudetendeutschen, ihr Eigentum zurückzuerhalten.
Wie beurteilen England und Frankreich heutzutage das Münchner Abkommen?
Schlüter: Die Engländer und die Franzosen haben sich nie dem Standpunkt angeschlossen, daß der Vertrag ex tunc nichtig sei, sie haben aber erklärt, daß aufgrund der nachfolgenden Handlungen des Deutschen Reiches die BRD als Rechtsnachfolger das Recht aus diesem Vertrag verloren habe. England und Frankreich billigen Deutschland Rechte aus der Prager Abtretung und aus dem Münchner Durchführungsabkommen nicht mehr zu.
Welche Folgen für die Sudetendeutschen hatte die "Entgermanisierungspolitik" der Tschechei konkret und welche Maßnahmen wurden dabei ergriffen?
Schlüter: Die "Entgermanisierungspolitik" der Tschechen war zunächst ein politisches Schlagwort, wurde dann aber durch die Vertreibung der Sudetendeutschen auf eine grausige Weise Wirklichkeit. Es steht nicht fest, ob von Anfang an die Absicht der Tschechen bestand, die Deutschen zu vertreiben oder ob diese erst im Zusammenhang mit dem Kriegsende 1945 umgesetzt wurde. Die Folge der "Entgermanisierungspolitik" war im Endeffekt der bedauerliche Verlust der Heimat der Sudetendeutschen. Konkrete Maßnahmen der "Entgermanisierungspolitik" waren seit den 1920er Jahren die Enteignung von deutschem Grundbesitz, die Beeinträchtigung der Geschäfte deutscher Banken und vor allen Dingen die Schulpolitik, die zur Schließung der Schulen in rein deutschsprachigen Gebieten und Ersatz durch tschechische Schulen geführt hatte.
Welche Rolle im Konflikt zwischen Sudetendeutschen und Tschechen spielte das Deutsche Reich? Welche Einflußmöglichkeiten waren gegeben und wie wurden sie genutzt und legitimiert?
Schlüter: Aus der Geschichte wird sichtbar, daß England und Frankreich bemüht waren, einen Schwelbrand zu beseitigen. Chamberlain, Halifax und Runciman haben sich intensiv darum bemüht, bei den Tschechen das Gefühl für das Selbstbestimmungsrecht der deutschen Volksgruppe wachzurufen. Sie haben dann auch die Tschechoslowakei unter Druck gesetzt, der Abtretung zuzustimmen, weil sie damit militärische Maßnahmen des Reiches verhindern wollten. Historisch gesichert können wir davon ausgehen, daß erst in den letzten Jahren ab 1936/37 eine Verbindung zwischen der Sudetendeutschen Partei und dem Deutschen Reich virulent wurde.
Welche Bestrebungen gab es von sudetendeutscher Seite im Hinblick auf einen Anschluß an das Deutsche Reich seit 1918?
Schlüter: Unmittelbar nach dem Kriegsende 1918 bestand die Absicht Deutschlands und Österreichs, unter Einbeziehung der sudetendeutschen Gebiete sich zu einem Reich zu vereinigen. Diese Bemühungen haben die Alliierten verboten. Sicherlich ist der Wunsch zum Anschluß der Sudetendeutschen an das Deutsche Reich geblieben, auch wenn einflußreiche sudetendeutsche Kreise immer ihre Loyalität zum tschechischen Staat artikuliert und unter Beweis gestellt haben. Sie forderten lediglich ein ihrem Status entsprechendes Minderheitenrecht. Als dies Minderheitenrecht trotz verschärfter Bemühungen der Sudetendeutschen nicht eingeräumt wurde, wandte sich Henlein mit der Sudetendeutschen Partei an die deutsche Reichsregierung.
Das Interview entstand bei einem Besuch des Wissenschaftlers bei der Burschenschaft Normannia-Nibelungen zu Bielefeld in der Deutschen Burschenschaft anläßlich eines Gastvortrags.
Wie sehen Sie die Zukunft der sudetendeutschen Frage innerhalb Europas?
Schlüter: Es ist nicht zu übersehen, daß auf beiden Seiten, sowohl auf der sudetendeutschen, als auch auf der tschechischen, restaurative Kräfte wirken, die sich einerseits mit dem Gebietsverlust nicht abfinden wollen, andererseits das Unrecht der Vertreibung nicht eingestehen wollen.
Zusätzlich ist nicht zu übersehen, daß es in Deutschland und in der Tschechei viele junge Menschen gibt, die vielleicht unter dem Dach Europas sich darum bemühen, endlich einen Ausgleich zwischen den Nationen zu finden.
Gewissenhaftes Studium der Geschichte wird ihnen dabei helfen.
Welche Möglichkeiten hatten die Vertriebenenverbände der Sudetendeutschen zu reagieren, und was haben diese erreichen können oder versäumt?
Schlüter: Im Völkerrecht spielt der Gedanke der Verwirkung eine große Rolle. Selbst wenn die Regierung eines Staates zu erkennen gibt, daß sie bereit ist, auf Rechte zu verzichten, hätte eine entschlossene Haltung diesem Eindruck der Verwirkung entgegentreten können. Ich bin der Auffassung, daß die Vertretung der Sudetendeutschen ihren Rechtsstandpunkt zu wenig klargemacht hat.
Wie beurteilen Sie generell die Wirksamkeit von völkerrechtlichen Verträgen auch im Hinblick auf andere Gebietsabtretungen und Vertreibungen von Volksgruppen unter Berücksichtigung des Selbstbestimmungsrechtes der Völker?
Schlüter: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker steht als oberster Grundsatz in diesem Zusammenhang fest. Aber dieses Grundrecht muß auch in Anspruch genommen und durchgesetzt werden können. Im Augenblick sehe ich hier weder die Bereitschaft noch den Willen der Bevölkerung, daran mitzuwirken. Außerdem steht ein ganz wichtiger Gesichtspunkt noch zur Debatte: Die jungen Bewohner der betroffenen Länder haben ein ausgesprochenes Bedürfnis nach Verständigung und gemeinsamem Wohlergehen. Sie haben in weiten Bereichen kein geschichtliches Bewußtsein mehr und artikulieren damit auch keinen Wunsch nach Rehabilitierung, würdigem Gedenken an die Opfer oder Entschädigungen.
Zur Person
Professor Dr. Wolfgang Schlüter ist Jurist und Rechtsanwalt. Seine Fachgebiete sind Wirtschafts- und Gesellschaftsrecht, Bankrecht, Presse- und Wettbewerbsrecht sowie Erbrecht. Über mehrere Jahre wirkte er als Dozent für Wirtschaftsrecht an der privaten Universität Witten / Herdecke und der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder. Zur Zeit arbeitet er als Honorarprofessor an der juristischen Fakultät der Universität Hannover. Privat gilt sein besonderes Interesse der Geschichte und dem Völkerrecht.
W. Schlüter |
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