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Oft geh ich in Gedanken meiner Kindheit Wege nach/ auf moosbewachsnen Pfaden durch den stillen grünen Dom -/ Wie bist du immer meinem Herzen nah -/ du fernes, unvergessnes Land am Pregelstrom!" schrieb Eva Maria Sirowatka (1917-1988) nach Flucht und Vertreibung in einem ihrer schönsten Gedichte, "Ich weiß ein Land". Wer unfreiwillig die Heimat verlassen muß, der hängt umso mehr an diesem Stück Land, das ihn so sehr geprägt hat. Aber auch Menschen, die im Zuge ihrer Entwicklung die Heimat verließen, fühlen den Wert des Ortes, an dem sie aufwuchsen, an dem sie ihre ersten Erfahrungen, seien sie bitter, seien sie süß, gemacht haben. "Als ein Heimatlos er hätte ich verlorengehen können, weil ich ohne Wurzeln hätte aufwachsen müssen", so der Dichter Ernst Wiechert (1887- 1950).
Wie prägend die ersten Jahre, die ersten Erfahrungen und Empfindungen sind, erkennt der aufmerksame Leser beim Studium von Kindheitserinnerungen bedeutender Persönlichkeiten. Der Jurist und Reiseschriftsteller Ludwig Passarge (1825-1912) wuchs auf dem Gut Wolittnick, Kreis Heiligenbeil, auf. Sein schönster Aufenthalt war der Erlengrund: "Selbst ein kleines Boot schaukelte sich auf dem etwas durch die Erlen eingeschränkten Bach; darin liegend habe ich zum ersten Male mit unbegrenztem Ent-zücken den Faust gelesen ..." Ein anderer Jurist und Dichter, der in Insterburg geborene Ernst Wichert (1831-1902), erinnert sich an eine entscheidende Wanderung von Danzig über Dirschau nach Marienburg im zarten Alter von knapp zehn Jahren. "Besonderen Eindruck machte mir der hohe Remterturm und das von seinen Zinnen überragte Dach bei unserem Rundgang - vielleicht weil es da etwas zu klettern gab. Wenn die Erinnerung auch wiederholt aufgefrischt wurde, so blieben die eigenartigen Bilder, die ich auf dieser ersten Reise nach Danzig und Marienburg empfing, doch fest in mir haften und wirkten nach, als ich vierzig Jahre später meinen ersten Roman ,Heinrich von Plauen schrieb."
Eine ganz andere Erfahrung machte Hermann Sudermann (1857-1928). Der in Matziken, Kreis Heydekrug, geborene Dichter und Dramatiker, erinnert sich im "Bilderbuch meiner Jugend" an seine erste Begegnung mit Gott: "Eines Sonnabendabends ... da saß ich am Fenster über einem Bande ,Gartenlaube und besah Bilder. Da blieb mein Blick an einer Zeichnung - wenn ich nicht irre, von Ludwig Richter - hängen, ein Engelsgärtchen darstellend, und in mir erwachte eine nicht zu bändigende Sehnsucht, mit unter den spielenden Engeln zu sein. Und da sah ich zum Himmel hinauf, über den das Abendrot einen lichtdurchwirkten Vorhang breitete. Der Vorhang tat sich auseinander, und auf den Strahlen, die bis zur Erde herabreichten, kletterten leibhaftig die kleinen Engelchen in ganzen Reihen lustig hernieder ... Und plötzlich streckte sich eine Hand aus dem Himmelsfenster, nicht drohend, nur mahnend - und dann war es auch keine Hand mehr, sondern war ein Auge, ein Gottesauge, und paßte auf, daß den Engelchen kein Leid geschah. Und nun wußte ich mit einem Male, wie es zugehen konnte, daß Gott da war und nicht da war und daß ich immer unter seiner Obhut stand. Und in mich zog ein tiefer Friede, wie wenn ich auf der Mutter Schoße saß und an ihrer Brust einschlafen durfte. An jenem Abend bin ich fromm geworden und blieb es lange."
Vom Zauber der Kunst schreibt der im Forsthaus Kleinort, Kreis Sensburg, geborene Ernst Wiechert in seinem Erinnerungsbuch "Wälder und Menschen": "Die erste Beseligung durch die Kunst habe ich von der Musik und, etwas später, von der Zeichenkunst erfahren, während die Dichtung erst in mein Leben trat, als mit der ersten Erzieherin auch die ersten Werke der Dichtkunst in unser an Büchern sehr armes Haus kamen." Es war der Schwager des Vaters, der den kleinen Ernst durch sein Flötenspiel zu Tränen rührte. "Ob er sehr schön gespielt hat, weiß ich nicht. Aber ich weiß, wie unvergeßlich es war, als er in einer Dämmerstunde zum ersten Mal die Flöte in den Händen hielt, ein Instrument, das schon in seinem Äußeren mit dunklem Holz und silbernen Klappen von seligen Geheimnissen erfüllt war. Und als dann die erste Melodie unter seinen Händen geboren wurde und sich aufhob und den ganzen Raum mit ihrer dunklen Schönheit erfüllte, erbebte etwas in mir, das ich bis dahin nicht gekannt hatte und vor dem es eine Rettung nur in dem geben konnte, was ich die ersten, seligen Tränen nennen möchte. Ich glaube nicht, daß man mich verstand, ja ich erinnere mich, daß man mich tadelte und verspottete, weil meine träumerische und weiche Art meine Eltern mit früher Sorge erfüllen mochte. Und doch war etwas Großes geschehen: eine neue Welt hatte zum erstenmal ihre Tore vor mir aufgetan, und niemand wußte, daß ich ihr verfallen bleiben würde."
Stolz und selig, aber auch zweifelnd sei er dann gewesen, als er zum ersten Mal selbst eine Geige unter das Kinn hob, um ihr Melodien zu entlocken. Das Publikum, das Mädchen Amalie, war nicht gerade begeistert ob der Katzenmusik, die dem Zauberkasten entquoll. Sie lachte den jungen Künstler kurzerhand aus, worauf dieser sie in heiligem Zorn verfluchte. "Ich habe dann meine Geige genommen und bin in den Wald gegangen. Dort lächelte niemand, dort hielt sich niemand die Ohren zu. Und als ich dann ganz still in den Alltag zurückkehrte, war ich wohl etwas unglück-licher, aber auch etwas bescheidnener in meinem Anspruch auf den Kranz unter den Sternen geworden."
Als Lovis Corinth (1858-1925) in der Schule gefragt wurde, wann er denn Geburtstag habe, war der Fünfjährige ratlos. Seine Mutter aber lachte: "Segg, toon Kornaust!" antwortete sie auf die Frage ihres Sohnes. "Ich sah sie verdutzt an und war nicht klüger als vorher. Erst viel später reimte ich es mir zusammen, daß die Bauern und einfache Leute wichtige Ereignisse relativ miteinander bekennzeichnen ... Wenn meine Mutter spann", erinnerte sich der in Tapiau, Kreis Wehlau, geborene Maler, "stand ich am Fenster und schnitt aus Papier Pferde und Menschen aus. Vorgezogen wurde von mir steifes Papier - ich nannte es fett. Zufrieden war ich schon, wenn mein Vater von seinen Reisen nichts als fettes Papier mitbrachte. Dann wurde sofort probiert, ein Pferd auszuschneiden, und bald hatte ich einen Marstall zusammen. Die Fleischer und Bauern, welche bei uns ihre Geschäfte machten, bewunderten meine Kunst sehr, und stets war auf ihre Frage, was ich denn wohl werden sollte, die Antwort meiner Mutter: ,Tepper! Dann kann he Bloome op de Schiewe moale ..."
Käthe Kollwitz (1867-1945), die Graphikerin und Bildhauerin aus Königsberg, schildert in ihren Erinnerungen in einfühlsam-humorigen Worten das Wunder ihrer ersten Liebe. "In unserem Hause oben wohnte ein Junge, Otto Kunzemüller, der war meine erste Liebe. Wir spielten unten im Hof und Garten mit den anderen Hauskindern in ziemlicher Freiheit. Die Jule hatte entdeckt, daß ich und Otto manchmal in den Keller gingen, um uns zu küssen, und sie sagte es der Mutter, nicht um zu petzen, sondern weil sie sich sorgte. Ich hatte damals die Befürchtung, daß ich nun nicht mehr mit dem Otto würde spielen dürfen, aber die Mutter in ihrem wortlosen Vertrauen sagte mir nichts und verbot mir nichts. Das Küssen war kindlich und feierlich. Es wurde immer nur ein Kuß gegeben und wir nannten das eine Erfrischung. ... Ich liebte den Otto tatsächlich so stark, daß ich ganz ausgefüllt war davon. Weil ich aber in Liebessachen ganz unwissend war und er, will mir jetzt scheinen, auch, so blieb es bei diesem Erfrischungskuß ... Einmal sagte er mir, er könnte mich nicht heiraten. Warum? fragte ich erschreckt. Weil ich zur Freien Gemeinde gehöre und er nicht. Ich meinerseits mußte eine Weile mich überwinden, ihn heiraten zu wollen, weil er Kunzemüller hieß, das war ein scheußlicher Name, besonders, da die anderen Jungen ihn noch immer Kumstemüller nannten. ... Diese Liebe hatte ein Ende, weil Kunzemüllers wegzogen. Otto versprach, über die Zäune der Gärten mich noch besuchen zu kommen, einmal tat er es auch, aber dann blieb er doch weg. Ich sehnte mich schrecklich. Weiß noch, wenn ich von der Schule die Treppe raufkam und vom Flurfenster in den leeren Spielhof mit dem alten Birnbaum sah an heißen Sommertagen. Aller Reiz war weg. Ich empfand Sehnsuchtsschmerz und alle Spiele mit anderen waren schal und leer. An die Innenfläche meines linken Handgelenks hatte ich mir ein O eingeritzt, das ich immer, wenn es vernarben wollte, wieder vertiefte ..."
Einer ganz anderen Sehnsucht geben sich die Erwachsenen hin, mit denen Agnes Miegel (1879-1964) im zarten Kindesalter den Sommer verbringt. Der See! - Was das wohl war, die See, grübelte die Kleine. "Alle hatten davon gesprochen, Minna und Martha. Und das rote Eimerchen war für die See. Ob das eine Frau war? Oder ein Fluß?" Am Sonntagmorgen war es dann endlich soweit. "An Häusern und Gärten ging s vorbei. Ich schnaubte und schnoberte, strich mit der Zunge über die Lippen. Ich roch, ich fühlte das Brausen. Aber zu hören war es kaum. Ganz leise, mit einem süßen, kleinen, klapsenden Klang, so gleichmäßig, so lieblich; es war, als drückte es jedesmal den Magen." Dann endlich, nach heißem Weg: "Schwatzen, Lachen, Schreien, Kreischen, Plätschern. Eine lange Reihe hellgrün gestrichener Buden, grell in der Sonne, nach Harz und Leinen dunstend, stand plötzlich vor uns auf hohem Sand vor dem hitzeflimmernden blauen Himmel ... Ich hing auf Mutters Arm, hielt sie umklammert, sah Sonne und Menschen und Sand. Und sah dahinter Frauen und Kinder halbnackt oder glänzend blank und bunt, kreischend und plätschernd in einem kleinen Bezirk, eingefriedet wie ein Fohlengarten, in etwas, was viel blauer war als der Himmel, glänzend blank und glitzernd wie ein Fisch, unendlich groß, hoch wie eine Wand, gebreitet wie ein Tuch, wie eine Wiese. Etwas, was aufglänzend mit kleinen verfließenden Glasstreifen auf den Sand schlug, immerfort. ,Die See! sagte ich leise. Mutter nickte ..."
Was ist es, das Kindheitserlebnisse so unvergeßlich macht? Der Komponist und Musikschriftsteller Otto Besch (1885-1966), dessen Kinderparadies in Neuhausen bei Königsberg lag, erkannte: "Nüchtern betrachtet waren es nur die kleinen Dinge und Begebenheiten, kaum der Rede wert. In der Erinnerung aber erscheinen sie wie auf Goldgrund gemalt, wie von einem Lichtstrahl verklärt, der, je weiter sie in die Ferne rücken, um so stärker auf sie einzuwirken scheint. ... Was erlebte man denn? Die Stille eines ostdeutschen Dorfes, Freuden, die durch eine Blume, einen Vogelruf, einen Schmetterling - Gefühle des Grauens, die in der Stille der Nacht durch eine leises Knacken im Gebälk ausgelöst werden konnten. Es war die Reinheit der Luft, die man atmete, die auch die bescheidensten Dinge klarer und bedeutungsvoller erscheinen ließ, als sie in Wirklichkeit wa-ren." Peter van Lohuizen |
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