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In Ostdeutschland geboren, Sohn ostdeutscher Eltern, wohnhaft in Ostdeutschland ausschließlich, was konnte in diesem Fall leichter sein, als die deutsche Staatsbürgerschaft nachzuweisen? Wozu? Na, sagen wir einmal, um in den Beamtenstand übernommen zu werden, als Försterchen, Offizier, Staatsdiener bei Zoll oder Reichspost, mit einem Wort, so ein Scheinchen, die Urkunde, mußte sein. Nichts einfacher als das, dachte Xavier Ditschuneit bei sich, grapschte sich Geburtsurkunde, Schulzeugnisse, einen Pungel mit Schmalzstullen und Kochkäse , zog feste Wanderstiefel an und machte sich an einem Mittwoch, den Scheitel frisch gezogen, auf den Weg zum Verwaltungssitz des nordöstlichsten Regierungsbezirkes, Gumbinnen, die Pillkaller Chaussee entlang.
Den zuständigen Beamten traf er im Büro an, nicht weit vor seinem Fenster plätscherte die Pissa dahin, schälte momentan liebevoll einen geschenkten Apfel, das Herrchen, teilte ihn in gleich große Stücke, nachdem er seufzend die schwarzen Kerne herausgepult hatte, reihte sie in einer Schützenlinie auf der leeren Schreibtischplatte auf. Die Schlacht bei Königgrätz hätte nicht verlorengehen müssen, grübelte er, womöglich wären wir alle Österreicher geworden, man könnte sich bequem ins Kaffeehaus begeben, statt sich mit Amtspflichten, der Beurkundung deutscher Staatsbürgerschaften, zu befassen, ausgerechnet im abgelegensten Nordostzipfel des Reiches.
Ein Hüsteln unterbrach seine philosophischen Betrachtungen, Xavier Ditschuneit machte sich bemerkbar, rieb sich die Nase, entschuldigte sich für die Störung der Dienstgeschäfte, sein Anliegen betreffe eine kleine Formalität beiläufig, ein Stückchen Papier, wenn es gefällig wäre dem Herrchen.
Der Beamte runzelte erst einmal die Stirne, faltete seine Hände, schickte ein Stoßgebet gen Himmel, den Kopf seitlich neigend: "Vielleicht ja, vielleicht nein, mit Urkunden ist das so eine Sache ... und erst die deutsche Staatsbürgerschaft, verstehen Sie mich richtig, man hat mich hierher strafversetzt, nein, nicht direkt, aber viele Beamte empfinden ihre Versetzung nach Ostdeutschland als Strafversetzung ... so was schlägt auf das Gemüt, auf das Gedärm ... man wacht morgens auf und weiß nicht, wo man sich befindet, schon in Litauen, Rußland? ... Wo, bitte schön, liegt Deutschland? ... in erster Linie im Magen, sage ich ... wer einmal Schwarzsauer gegessen hat, die süßsauere Suppe aus Gänseblut und Gekröse, der weiß, was ich meine ... wo habe ich nur meine Magentropfen?
Ah ja ... als ich vor sechs Wochen meinen Versetzungsbescheid bekam, habe ich im Atlas nachgesehen ... du meine Güte, über Elbe, Oder, Weichsel, Pregel hinweg, leben dort überhaupt Deutsche, habe ich gefragt? ... schließlich liegt die Provinz auf den gleichen Längengraden wie Kiruna in Schweden, Budapest und Kapstadt ... auf den Breitengraden von Kamtschatka und dem südlichen Ural... die Leute werden in Pelzmützen herumlaufen und Gewehre tragen, wegen der Wölfe, dachte ich... widersprechen Sie nicht, ich weiß Bescheid ... gegen Kälte immunisieren sich die Einheimischen mit Rum, den sie mit heißem Wasser zu Grog vermischen ... zur Abwechslung nehmen sie Kornschnaps als Medizin, einen gewissen Meschkinnes, Bärenfang, ein, Nikolaschka oder Pillkaller mit Leberwurst und einem Klacks Mostrich drauf ... ist der Magen erst ruiniert, essen sie schwere Speisen, fetten Speck, Bratklopse, Gänsebraten, Hechtsuppen, Flinsen, was weiß ich ... nirgendwo finden Sie Vergleichbares im Reich, keine Elche ... ihre Lust, Feste zu feiern, hört nicht einmal bei Beerdigungen auf, Verstorbene, im Sarg, werden hochkant an die Wand gestellt, damit es Platz zum Tanzen gibt ... was rege ich mich auf, die vielen Störche, Stinte, Krajebieter, Krähenesser ... überall Verrohung, oder kennen Sie eine Provinz, in der Menschen so herzlich fluchen können, sich Luntrus, Pomuchelskopp, Labommel, Zäg, Dammlack beschimpfen, bloß, damit die Versöhnungsfeste länger dauern?... Da fragt sich unsereiner, was das mit deutscher Sitte und Anstand zu tun haben soll ...
Mein Gehalt ist übrigens jämmerlich niedrig, die Ostzulage eine Gefahrenzulage ... und alle, alle kommen sie zu mir, wollen ihre deutsche Staatsbürgerschaft beurkundet haben... dabei heißen sie Stichlinski, Balschies, Baldschun, Valeities, Pogorzelski, hinten betont auszusprechen ... frage ich nach dem Wohnsitz, geben die Einheimischen Willpischen, Puspern, Skaiskirren zur Antwort ... das halte ich nicht im Kopf aus, ich brauche meine Kopfschmerztabletten morgens, mittags, abends ... zu allem Übel sind die Leute aus allen Himmelrichtungen eingewandert, die Salzburger aus Österreich, Hugenotten aus Frankreich, dazwischen Franken, Schwaben, Holländer, kann mir einer sagen, warum sie ausgerechnet die deutsche Staatsbürgerschaft wollen? ...
Ob ich nicht doch lieber einen Arzt aufsuchen und meine Rück-versetzung beantragen sollte?... vielen ist es nicht bekommen, nach Ostdeutschland gegangen zu sein, die Missionare, Adalbert von Prag, wurden gleich nach der Ankunft erschlagen, der Deutsche Ritterorden vermied wohlweislich, über Insterburg hinaus in die Wildnis vorzudringen ... was raten Sie mir, unter vier Augen? Die meisten sind rasch durchgezogen mit ihren Soldaten, König Gustav Adolf von Schweden, Napoleon, adelige Heerführer dienten sowieso abwechselnd polnischen und litauischen Königen, wer soll sich da noch auskennen? ... Stimmt es übrigens, daß man hierzulande mit Schnee eingerieben wird, wenn man im Winter halberfroren aufgefunden wird ...
Sind Sie wetterfühlig? Ich werde Rheumatismus bekommen, die vielen Seen, Flüsse, das Kurische Haff und die Ostsee in der Nähe, im Großen Moosbruch Sumpf ... die meisten Urkunden sind sowieso nicht viel wert, seit der Pest verschollen, bei Plünderungen verbrannt, unleserlich ... vermutlich denken Sie jetzt, ich mache mir das Leben unnötig schwer, weil Deutscher ist, wer deutsch spricht?... Da kann ich nur lachen, sprechen höre ich: Zippel, zergen, ablunkern, Spirgel, pischen, Butschkes, plachandern, Dubbas, schabbern... verstehe oft kein Wort, abends nehme ich ein heißes Bad, bevor ich ins Bett gehe, kalt abreiben hilft ebenfalls ...
Warum habe ich ausgerechnet Urkundsbeamter werden müs- sen ... meine Nerven sind nicht die besten, müssen Sie wissen ... warum sind Sie überhaupt zu mir gekommen, Sie sitzen stocksteif da, sind Sie der deutschen Sprache nicht mächtig ... können Sie nicht reden?"
"Ja-nein."
"Was nun? Ihren Namen werden Sie sagen können."
"Xavier Ditschuneit."
"O ja, ich erinnere mich, den Namen irgendwann gehört zu haben. Was wünschen Sie von mir?"
"Die Beurkundung meiner deutschen Staatsbürgerschaft. Wenn ich wenigstens ein Formular ...?" - "Erbarmung! So sagt man doch hier? Das wird lange dauern. Ich kenne den Verwaltungsweg. Was ist überhaupt Ihr Vater von Beruf, Wilddieb, wie? Ha, ha."
"Preußischer Beamter, in Berlin!"
Der Beamte springt auf, gratuliert ihm, schüttelt ihm die Hand. "Warum haben Sie das nicht gleich gesagt? Von Ostdeutschland nach Berlin! So eine Karriere wünsche ich mir. Dort fragt kein Mensch mehr, wo Deutschland liegt, so mittendrin. Übermorgen können Sie vorbeikommen, als Beamtensohn, und Ihre Staatsbürgerurkunde abholen." |
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