|
Heerschauen, Feldgottesdienste und Jubelparaden: Die Sozialdemokraten haben nach 16 Jahren harter Opposition die Regierungsübernahme und ihren neuen Kanzler Gerhard Schröder in einem euphorischen Rausch gefeiert. Das Wort "historisch" fehlte in fast keiner Rede. Der SPD-Parteitag in Bonn uferte zur Krönungsmesse für den Niedersachsen aus. Die Zustimmung zum rotgrünen Regierungsvertrag war bei SPD und auch den erstmals an einer Bundesregierung beteiligten Grünen eine reine Formsache.
Parteichef Oskar Lafontaine legt mit einer Hommage ohnegleichen an Schröder los: "Die ganze Partei bringt Dir Vertrauen und Unterstützung entgegen." Während der zum zweiten Mal von Lafontaine abgesägte Ex-Fraktionschef Rudolf Scharping mürrisch in den Saal des Nobelhotels Maritim blickt und von dem weggebissenen Unternehmer Jost Stollmann keiner mehr spricht, wird Lafontaine pathetisch: "Wer tatsächlich der Auffassung ist, daß Zusammenarbeit nur in den Kategorien von Rivalität, von Eitelkeit, von hinterhältigem Denken und so weiter möglich ist, den möchte ich hier nur bedauern." Über Jahre habe er beobachtet, daß "eine Rivalität zwischen Schröder und mir zum Thema" gemacht werden sollte. Schröder verzieht derweil keine Miene, und im Saal wird gelacht: Jeder merkt, daß sich hier die Balken biegen.
Der Saar-Napoleon steuert auf den rhetorischen Höhepunkt zu: "Die Regierung Schröder kann nur Erfolg haben, wenn Parteivorsitzender und Kanzler zusammenarbeiten und sich nicht auseinanderdividieren lassen von wem auch immer." Schröder führe die Bundesregierung: "Niemand, auch der Parteivorsitzende, wird ihm diese Kompetenz streitig machen." Zu den Treueschwüren äußerte sich Schröder mit keinem Satz. Er wußte wohl, warum.
Der neue Kanzler hält lieber eine der Siegesparade angemessene Rede und sagt zu Inhalten seiner Politik nichts. Noch ganz im Bann seiner ersten Teilnahme an einem EU-Gipfeltreffen stehend, will er eine europaweite Unternehmensbesteuerung, und "Sozialdumping muß ein Fremdwort werden". Zwischen Versicherungen, er stehe in der Kontinuität der SPD-Kanzler Willy Brandt und Helmut Schmidt, gibt Schröder bekannt, daß neben dem Euro-Stabilitätspakt ein Beschäftigungspakt auf EU-Ebene treten wird. Auch die Grünen haben sich in die Macht verliebt. Mit von Pathos durchdrungenen Stimmen loben und preisen Spitzenpolitiker der einstigen Protestpartei den Koalitionsvertrag. Wer kritisiert, wird ausgepfiffen, ignoriert. Einmal im Gewinnerrausch, wird auch der Streit um die Trennung von Ministerämtern und Parlamentsmandaten pragmatisch aus der Welt geschafft. Die Grünen-Minister Andrea Fischer, Jürgen Trittin und Joseph Fischer dürfen ihre Abgeordnetenmandate behalten.
Trotz Kritik der Frauen, die sich bei der Pöstchenvergabe übervorteilt fühlen, lehnen die Delegierten Anträge ab, die Quote einzuhalten. Der künftige Außenminister Joseph Fischer steckt die Frauenkritik mit Ironie weg. "Mit Beklemmung" sei er aufs Podium geklettert, listet dann den Frauen ihre Staatssekretärsposten auf und stellt fest: "Da ist die Quote doch nicht in Gefahr." Fraktionschefin Müller schwärmt von der "Zeitenwende", die sie durch die Einführung der "eingetragenen Partnerschaft" für Homosexuelle kommen sieht.
Die Bundesrepublik Deutschland steht vor einer Zäsur, und sie wird tiefer sein als 1969. Willy Brandt konnte damals aus vollen Kassen schöpfen, Reformen und Wohltaten schienen bezahlbar. Heute ist das anders. Schröder hat nichts zu verschenken. Ihm und dem rotgrünen Bündnis bleibt allein die Umverteilung. Umverteilung jeder Art löst gesellschaftliche Konflikte aus. Niemand, weder ein Zahnarzt noch ein Rentner, läßt sich gerne etwas wegnehmen, während andere auf die Erfüllung von Versprechen warten. Es ist also im Regierungsbündnis nicht alles Gold, was glänzt. So haben sich beide Parteien beim zentralen Punkt Ökosteuer mit Mühe auf den ersten Schritt verständigt. Die eigentlichen Auseinandersetzungen stehen erst noch bevor, wenn die Grünen den Ausstieg aus der Industriegesellschaft durch höhere Energiepreise im nationalen Alleingang betreiben wollen.
Mit doppelter Staatsbürgerschaft für Ausländer, der weitgehenden Entkriminalisierung bei Bagatelldelikten, staatlicher Heroinverteilung und eingetragenen Partnerschaften für Homosexuelle wird sich der Wertewandel beschleunigen. Die "Zeitenwende" ist da, aber das heißt ja nicht, daß die Zeiten besser werden.
|
|