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Je länger man sich mit der deutschen Rechtschreibung beschäftigt, desto mehr Respekt bekommt man vor dem ausgewogenen System einer überaus leserfreundlichen Verschriftungstechnik. Wie bei solchen Gebilden üblich, birgt jeder Eingriff die Gefahr, daß man etwas kaum Verstandenes zerstört, ohne ein gleichwertiges Neues an seine Stelle setzen zu können.
Wenn einer der Hauptverantwortlichen heute sagt: "Wir hätten die Rechtschreibreform nicht machen dürfen" (Kultusminister Zehetmair, Bayerische Staatszeitung vom 11. Juli 2003), dann sollte das Grund genug für eine unbefangene Besinnung sein.
Die Neuregelung hat die Erwartungen nicht erfüllt. Das Schreiben ist nicht leichter geworden, die Fehler haben nicht abgenommen, die Texte haben aber an Qualität eingebüßt. Ständige Nachbesserungen, bisher inoffiziell beschlossen und in die Wörterbuch bearbeitungen eingeschleust, haben das unausgegorene Regelwerk stark verändert und trotzdem keine neue Einheitsorthographie hervorgebracht.
Das Ergebnis ist eine allgemeine Verwirrung, die nicht länger als Übergangserscheinung verharmlost werden kann. Und weitere Änderungen stehen bevor.
Noch ist es nicht zu spät, noch wird die herkömmliche, in Jahrhunderten gewachsene Rechtschreibung von seriösen Verlagen praktiziert, noch ist sie Millionen Menschen bekannt und in Wörterbüchern und anderen Hilfsmitteln festgehalten. Aber dieses kostbare Wissen bröckelt, es droht unwiederbringlich verlorenzugehen. Wenn jetzt nicht gehandelt wird, kann es sehr lange dauern, bis wieder eine einheitliche, sprachrichtige und allgemein anerkannte Rechtschreibung zustande und in Geltung gebracht werden kann.
Was kann getan werden? Gehen wir die Optionen vorurteilslos durch.
Bisher haben die Kultusminister offiziell versucht, die Neuregelung unverändert durchzusetzen und lediglich auf ihre einheitliche "Interpretation" in Wörterbüchern, Schulbüchern und Medien hinzuwirken. Für die Wörterbücher ist das weitgehend gelungen; die Unternehmen Duden und Bertelsmann haben in exklusiven Beratungsgesprächen mit der zwischenstaatlichen Kommission einheitliche Schreibweisen vereinbart, wobei in Wirklichkeit aber auch Regeln in der Substanz verändert wurden.
Für die Beibehaltung der reformierten Schreibung scheint zu sprechen, daß den Schülern nicht schon wieder eine Entwertung des gerade erst Gelernten zugemutet werden könne. Dieses Argument übersieht jedoch, daß die zur Zeit unterrichtete Schulorthographie nicht mit der Orthographie der Presse übereinstimmt, ohnehin revidiert werden muß und wird, da sie objektiv fehlerhaft ist und bei weitem nicht die Verbreitung hat, die ihr unterstellt wird; sie ist eigentlich auf die Schule beschränkt, anderswo herrschen Hausorthographien oder die "alte" Rechtschreibung.
Der erste Versuch, die Neuregelung zu korrigieren, stammt von der zwischenstaatlichen Rechtschreibkommission, die mehrheitlich aus den Urhebern des Reformwerkes bestand. Vorgelegt wurde er bereits Ende 1997; nach einer ergebnislosen Diskussion ("Mannheimer Anhörung" am 23. Januar 1998) untersagten die Kultusminister und das damals stark engagierte Bundesinnenministerium sämtliche Änderungen, auch die von den Reformern selbst als "unumgänglich notwendig" bezeichneten. Seither sind keine neuen Tatsachen bekannt geworden, die ein anderes Votum der Politiker erwarten lassen.
Damit erledigt sich wohl auch ein umfassender Reparaturversuch, den die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung zuerst 1999 und dann in Buchform im Frühjahr 2003 vorgelegt hat. Er stammt im wesentlichen von Peter Eisenberg, der parallel dazu im Wahrig Universalwörterbuch (dtv 2002) detaillierte neue Schreibweisen angegeben hat. All diese Vorschläge lassen, obwohl sie von der Neuregelung ausgehen, praktisch keinen Stein auf dem anderen, sind aber darüber hinaus widersprüchlich und fehlerhaft, so daß die zwischenstaatliche Kommission mit ihrer schroffen Zurück-
weisung des Akademie-Vorschlags als "völlig untauglich" (Pressemitteilung vom 22. Mai 2003) nicht ganz unrecht hat.
Nicht wenige Kritiker, so auch die Deutsche Akademie, sind um des lieben Friedens willen bereit, den Reformern die neue ss-Schreibung zuzugestehen:
"Wer sie akzeptiert, gibt zu erkennen, daß er die Neuregelung nicht grundsätzlich bekämpft" (Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung 1999). Das wäre allerdings paradox, denn diese "Heysesche s-Schreibung" gehörte eigentlich gar nicht zum jahrzehntelang verfolgten Reformplan. Sie ist, nach wenig ermutigenden Versuchen Ende des 19. Jahrhunderts, erst in letzter Minute und gegen die Überzeugung der Reformer erneut aufgegriffen worden (ähnlich wie die vermehrte Großschreibung). Sollte ausgerechnet etwas, was wirklich niemand wollte, als einziges Reform-Überbleibsel Bestand haben? Man würde es mit Recht lächerlich finden.
Der Duden hatte die tatsächlich praktizierte, historisch gewachsene Rechtschreibung leidlich korrekt dokumentiert, doch hatte sich die Redaktion durch die vielen Anfragen der Benutzer dazu verleiten lassen, Einzelfallschreibungen auch dort festzulegen, wo es sich in der Sprache selbst um Übergangsphänomene handelt (getrennt oder zusammen, klein oder groß?). In Verbindung mit dem "Dudenprivileg", das die deutsche Rechtschreibung mit ihrer Darstellung im Duden identifizierte, kam es zu dem unersprießlichen Zustand, daß genaugenommen praktisch niemand die deutsche Rechtschreibung vollkommen beherrschte. Nur weil eben niemand es so genau nahm, konnte man damit recht gut leben. Hier hätte, wie die Dudenredaktion gern zugibt, längst etwas geschehen müssen. Es ist daher nicht wünschenswert, den alten Zustand umstandslos wiederherzustellen.
Die tatsächlich im deutschen Sprachraum verwendete Rechtschreibung, die sich niemals mit der Dudennorm deckte, war und ist anerkannt leserfreundlich und bei richtiger Darstellung keineswegs besonders schwierig. Vergleichspunkte müssen die französische und die englische Orthographie sein, mit denen die deutsche einen Dreierbund bildet, der völlig anders geartete Schriftprinzipien zugrunde legt als die meisten anderen europäischen Sprachen. Ungeachtet einer gewissen Flexibilität erwies sich die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts übliche deutsche Rechtschreibung als hinreichend einheitlich; die vorhandenen Unterschiede fielen dem Leser so gut wie nie auf. Sie war in keinem Punkt grammatisch fehlerhaft; andererseits nahm sie auf textsemantische Bedürfnisse und damit auf die schnelle Sinnentnahme in beinahe unübertrefflicher Weise Rücksicht.
Allerdings hatte die erwähnte Duden-Privilegierung die Lexikographie daran gehindert, den herrschenden Usus zunächst einmal deskriptiv zu erfassen - ein Versäumnis, dessen Behebung auch den Reformvorschlägen hätte vorausgehen müssen. Es wäre dann nicht zu der undurchschaubaren Mischung von geänderter Schreibweise und geänderter Darstellung gekommen. Steht die sachliche Überlegenheit der bisherigen Rechtschreibung außer Frage, so ist zu überlegen, wie man ihr zu tatsächlicher Anerkennung verhelfen kann, ohne den bereits angerichteten Schaden zu vergrößern. Die Deutsche Akademie bezeichnete ihren Kompromißvorschlag, der um die Beibehaltung der eigentlich abgelehnten (und im Akademie-Text selbst desavouierten) ss-Schreibung zentriert ist, als "zweitbeste Lösung"; ihr Plädoyer setzt voraus, daß die beste Lösung - nämlich ein "ausgekämmter Duden" im dargestellten Sinne - nicht mehr erreichbar sei. Zu solcher Resignation besteht kein Anlaß. Folgende Schritte sind denkbar und ohne weiteres möglich:
Erstens bleibt die bisherige Rechtschreibung ohne zeitliche Begrenzung gültig. Ihre Bindung an den Duden ("Dudenprivileg") wird jedoch aufgehoben. Diese Rechtschreibung ist nicht nur in Millionen Druckwerken dokumentiert, die zu einem beträchtlichen Teil weiterhin gelesen und genutzt werden, sondern wird auch von Schriftstellern und anderen Autoren auf absehbare Zeit benutzt und keinesfalls durch die (ohnehin de facto bereits überholte) Neuregelung von 1996 ersetzt werden. Eine Schul- orthographie, die die Werke der bedeutendsten zeitgenössischen Autoren und seriöse Fachbücher als "falsch geschrieben" erscheinen läßt, erledigt sich selbst.
Zweitens wird die bisherige Rechtschreibung von den einschlägigen Verlagen und Instituten empirisch erforscht und mit ihren sinnvollen Spielräumen deskriptiv dargestellt. Im freien Wettbewerb um die beste Darstellung werden sich gute Nachschlagewerke herausbilden, wie es zum Beispiel in England und Frankreich seit je üblich ist - und auch in Deutschland, sobald es um andere Fragen als die orthographischen geht (Aussprache, Grammatik, Wortbedeutung, Stil).
Drittens werden für den Schulgebrauch Rechtschreibwörterbücher wie andere Schulbücher einem Zulassungsverfahren unterworfen. Fachgutachtern darf man die Kompetenz zutrauen, die Übereinstimmung einer orthographischen Darstellung mit dem allgemein Üb- lichen zu beurteilen. Dadurch ist die Mitwirkung und Oberaufsicht der Schulbehörden gewährleistet, ohne daß sich der Staat selbst gestaltend in den Sprachgebrauch einmischen muß.
Viertens werden die Schreibweisen gemäß der Rechtschreibreform in ihren verschiedenen Auslegungen für einen Übergangszeitraum von zehn Jahren nicht als Fehler gewertet, auch wenn sie grammatisch fehlerhaft sind ("so Leid es mir tut, sehr Aufsehen erregend"). Die orthographischen und grammatischen Tatsachen werden jedoch, soweit erforderlich, im Deutschunterricht thematisiert. So könnte aus dem Schaden letzten Endes sogar noch ein pädagogischer Nutzen erwachsen.
Theodor Ickler, geboren 1944, ist Professor für Germanistische Linguistik und Deutsch als Fremdsprache an der Universität Erlangen-Nürnberg. Er erhielt 2001 vom "Verein für Sprachpflege" den Deutschen Sprachpreis für seine "konstruktive Kritik" der Rechtschreibreform und für seine "vorbildliche Darstellung" der bewährten Rechtschreibung. Der hier veröffentlichte Text basiert auf einem Beitrag der Schweizer Monatshefte in Zürich. |
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