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Heiligenbeil wird dieses Jahr 700. Dieses nahmen um die 520 Deutsche aus dem gleichnamigen Kreis zum Anlaß, um diesen Sommer mit den dort lebenden Russen vor Ort zu feiern. Die Russen begingen jedoch weniger den 700. Geburtstag der Stadt als vielmehr wie jedes Jahr die Umbenennung in Mamonowo im Jahre 1947. Letzteres ist für Deutsche zweifellos kein Grund zum Feiern, und entsprechend ambivalent war die Feier, doch hat Siegfried Dreher, der Kreisvertreter von Heiligenbeil, möglicherweise recht mit seinem Argument, daß es ohne die Verquickung keine Jubiläumsfeier „700 Jahre Heiligenbeil“ gegeben hätte, und deshalb wurde 1998 die Einladung des russischen Bürgermeisters Wladimir Komarow angenommen. So machten sich denn Hunderte von Ostdeutschland aus dem gesamten Bundesgebiet auf den Weg, um am 54. Jahrestag seiner Umbenennung in Mamonowo dessen runden Geburtstag zu feiern. Hierbei handelte es sich zweifellos um eine logistische Meisterleistung des Kreisvertreters, der mit Energie, Ausdauer und Engagement , die Bewunderung verdienen, jahrelang auf dieses Groß- ereignis hingearbeitet hat. Insgesamt zwölf Busse waren unterwegs; einer davon war der sogenannte politische. In ihm befanden sich außer dem Kreisvertreter auch die Delegationen des Landkreises Hannover sowie der Städte Lehrte und Burgdorf, den Patenträgern des Kreises und des Ortes Heiligenbeil sowie des Ortes Zinten.
Bereits zu Beginn der Fahrt ergriff S. Dreher das Mikrophon, um den Mitreisenden klarzumachen: „Dies ist keine Touristenfahrt, keine Vergnügungsreise, sondern eine Dienstreise, auch mit politischen Akzenten! Wir werden eine interessante, aber anstrengende Erlebnisreise haben. Bei dem von mir erstellten Programm ist größte Disziplin notwendig.“ Die von S. Dreher eingeforderte und neben der Toleranz sowie der Korrektheit sicherlich bedeutendste der preußischen Tugenden war in der Tat vonnöten, denn die Reise war aus Rücksicht auf die Berufstätigen unter den Paten relativ kurz und das Programm deshalb um so dichter.
Nach fünfzehneinhalbstündiger Fahrt vom niedersächsischen Rodewald über Hannover, Lehrte, Magdeburg, Frankfurt, Deutsch-Krone, Preußisch Stargad, Marienburg und Elbing war am Abend Ostdeutschland erreicht. In Frauenburg wurde das erste Quartier bezogen. Hier wurde außer der den Ort vom Domberg aus dominierenden eindrucksvollen Kathedrale auch der am 26. Mai dieses Jahres eingeweihte Gedenkstein zur Erinnerung an die Opfer der Flucht über das nahegelegene Frische Haff aufgesucht. Die einvernehmlich festgelegte und vom Rat der Stadt Frauenburg beschlossene Inschrift lautet in Deutsch und Polnisch: „450.000 ostdeutsche Flüchtlinge flohen über Haff und Nehrung, gejagt vom unerbittlichen Krieg. Viele ertranken, andere starben in Eis und Schnee. Ihr Opfer mahnt zu Verständigung und Frieden.“ Wenn die Angabe, wer die Flüchtlinge gejagt hat, mit dem „unerbittlichen Krieg“ auch recht abstrakt bis unkonkret gehalten ist, so ist es doch ein positives Zeichen, daß hier überhaupt deutscher Opfer gedacht wird, statt sie zu tabuisieren. Statt eine eigene Ansprache zu halten, trug S. Dreher bei dieser Gelegenheit den Text der Einweihungsrede der Frauenburger Bürgermeisterin Danuta Markowska vor, die aufgrund ihres um Frieden und Verständigung bemühten versöhnlichen Charakters sicherlich der Wiederholung wert war.
Der erste Tag nach der Anreise war dem im südlichen Teil Ostdeutschlands gelegene Teil des Kreises Heiligenbeil gewidmet. Das Tagesprogramm begann in Braunsberg mit dem Besuch des Bürgermeisters Henryk Mrozinski. In dem holzgetäfelten, mit dem polnischen Staatswappen und den Landesfarben festlich geschmückten Sitzungssaal seines Dienstsitzes hieß der Kommunalpolitiker in Begleitung seines Gemeindedirektors die Gäste aus der vergleichsweise wohlhabenden Bundesrepublik auf das herzlichste willkommen.
Nach den Worten der Begrüßung stellte er in einem Vortrag seinen Amtsbezirk samt dessen Problemen vor. Der Zuständigkeitsbereich des Amtsbürgermeisters umfaßt 306 Quadratkilometer mit 22 kleinen Landge- meinden im Umkreis Braunsbergs mit insgesamt rund 6.500 Bürgern. Ökonomisch ist die Region hauptsächlich durch landwirtschaftliche Kleinbetriebe geprägt, die international und auch national nur bedingt wettbewerbsfähig sind. Hieraus ergeben sich mannigfache Probleme, von denen die Arbeitslosigkeit von rund 35 Prozent und die mangelnden Perspektiven für die Jugend die größten sind. Wer es sich von den Jugendlichen leisten kann, zieht weg, um anderswo bessere Ausbildungsmöglichkeiten und Karrierechancen zu nutzen, und wer bleibt, sind häufig die Sozialhilfeempfänger, die den Absprung nicht schaffen.
Die Versuche, das strukturelle Problem der Landwirtschaft zu lösen, sind bis jetzt erfolglos geblieben, und das nicht ohne Grund. So werden die finanzkräftigeren Nachbarn im Westen zwar beredt zu Investitionen eingeladen, doch dürfen sie nur nach vorheriger Zustimmung des polnischen Innenministeriums und nie mehr als 49 Prozent eines landwirtschaftlichen Betriebes erwerben. Auch der Versuch des Staates, durch eine rein polnische Lösung, nämlich die Bildung von Genossenschaften, des Problems der Zerstückelung Herr zu werden, blieb bislang erfolglos. Er scheiterte am Widerstand der polnischen Landwirte. Zu frisch sind noch die abschreckend wirkenden Erinnerungen an die Zwangskollektivierung in der Sowjetzeit.
Ein weiteres Problem neben der geringen Größe der Höfe ist der dramatische Rückgang des Osthandels. Gerne wird polnischerseits als Ursache hierfür auf die russischen Zahlungsschwierigkeiten verwiesen, doch zeigen die Polen im südlichen Ostdeutschland kaum Interesse an einer Intensivierung der (Handels-)Beziehungen zum armen Nachbarn im Osten. Der betont katholische und frankophile ehemalige Ostblockstaat zeigte sich vollkommen auf den Westen fixiert, von dem und in dem er sich offenkundig das Heil verspricht. Angesichts der Erwartungshaltung gegenüber der traditionell primär von Frankreich dominierten und von Deutschland finanzierten Europäischen Union konnte einem als (deutscher) EU-Bürger angst und bange werden.
Bürgermeister Henryk Mrozinski erwies sich als ein aufmerksamer Gastgeber und begleitete seine deutschen Gäste nach dem Vortrag und der anschließenden Diskussion auf ihrem Weg durch seinen Amtsbezirk. Die erste Station war Sankt Katharinen, wo bereits ein Geistlicher auf die Reisegruppe wartete, um aus eigenem Mitwirken von dem im Jahre 1979 begonnenen Wiederaufbau des zu mehr als 80 Prozent zerstörten Gotteshauses zu berichten.
Der Besichtigung des Sakralbaus samt Krypta, in der noch die Maurer arbeiteten, folgte der Besuch des nahegelegenen Klosters gleichen Namens. Nach der Begrüßung durch die Oberin übernahm es eine fließend deutsch sprechende Schwester, eine geborene Ostpreußin aus dem Raum Allenstein, ihren Landsleuten aus der Bundesrepublik von der Vergangenheit und Gegenwart des Klosters sowie dem bewegten Schicksal der im Hause aufbewahrten Reliquie der Klostergründerin Regina Protmann zu berichten. Den letzten Programmpunkt im Katharinenkloster bildete der fröhliche Gesang eines weltlichen Damenchors, dessen Repertoire aus nicht nur jugendfreien Volksliedern Polens bestand. Gerne hätte die ebenfalls anwesende Vorsitzende der deutschen Volksgruppe in Braunsberg, Veronika Swatowska, anschlie- ßend mit den deutschen Landsleuten noch ostdeutsche Lieder gesungen, doch das Mittagessen wartete bereits.
Mit dem Bus ging es auf herrlichen Alleen, vorbei an Feldern und Wiesen sowie Häusern mit Storchennestern zum Schulgebäude Eisenbergs, in dem die dortige Schulleiterin mit den Lehrerinnen ihres Kollegiums und anderen Helferinnen fürstlich aufgetafelt hatte. Die Tafel war derart liebevoll gedeckt, daß sich S. Dreher in seiner Tischansprache als Sprecher der deutschen Gäste euphorisch zu den Worten hinreißen ließ, daß es derart festlich bei ihm zu Hause nicht zugehe.
Der anschließende Verdauungsspaziergang führte zur wiedererrichteten Ordenskirche, die auch besichtigt wurde. Zurück am Bus verabschiedete sich die Gruppe von H. Mrozinski und fuhr zum rund 16 Kilometer entfernten Lichtenfeld, wo der dortige Bürgermeister Stanislaw Popiel, der in der ehemaligen Apotheke amtiert, und Pastor Stanislaw Thacz aus Eichholz bereits warteten. Nach dem Besuch von Arnstein wurde in Eichholz die einzige aus der Vorkriegszeit noch erhaltene Kirche des Kreises Heiligenbeil besichtigt. Vor Ort berichtete Pastor Thacz über den besorgniserregenden Zustand des Baus und den letzten Stand der Restaurierungsarbeiten.
Abschließend präsentierte Bürgermeister Popiel seinen Stolz, die neue Schule in Lichtenfeld. Daß der Politiker auf den Bau und dessen Innenausstattung stolz ist, verwundert nicht, denn nicht nur ältere Jahrgänge in der Bundesrepublik wären froh gewesen, wenn sie in ihrer Schulzeit in diesem Rahmen hätten lernen können. Im Fachraum für Deutsch stellte sich die Schulleiterin nach der Führung durch das Haus den Fragen der ebenso beeindruckten wie interessierten Gäste.
Gemeinsam ging es nach diesem Besichtigungsprogramm zu Fuß zum offiziellen Empfang im Festsaal des Hauses Burchert. Wie am Vormittag in Braunsberg sprachen auch hier nach der Begrüßung durch den Bürgermeister und der Erwiderung durch den Kreissprecher die Delegationsleiter der drei deutschen Patenschaftsträger, die stellvertretende Landrätin von Hannover, Renate Beu, der Stadtdirektor von Burgdorf, Leo Reinke, und das Mitglied des Stadtrates in Lehrte, Dr. Rudolf Köhler, ein paar Sätze.
Nach den Reden und dem Austausch der bei solchen Anlässen obligatorischen Geschenke begann der informelle Teil des Programmpunktes. Man labte sich am Kuchen, Kaffee und Tee, den der Landfrauenverein „Warmianka“ freundlicherweise zu- und vorbereitet hatte, und schaute sich die unweit des Festsaals befindliche kleine Heiligenbeiler Heimatstube mit ihren dort ausgestellten historischen Aufnahmen an. Anschließend ging es mit dem Bus zurück ins Frauenburger Quartier. Das offizielle Besuchsprogramm im südlichen Teil des Kreises Heiligenbeil war beendet. D. Beutler
Frauenburg: Siegfried Dreher verliest am Gedenkstein für die Flucht- und Vertreibungsopfer die Einweihungsrede der Bürgermeisterin.
Lichtenfeld: Mit dem Empfang im Haus Burchert durch den Bürgermeister Stanislaw Popiel endet der erste Teil des Besuchsprogramms.
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