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Der Reichtum ostdeutschen Brauchtums im Bereich der textilen Volkskunst stand im Mittelpunkt der 47. Werkwoche, die in Bad Pyrmont im Ostheim stattfand. Rund vierzig handarbeitsbegeisterte Frauen fanden sich ein, um in vier verschiedenen Gruppen die alten Techniken des Musterstrickens, der Weißstickerei, der Webkunst und der Trachtenschneiderei zu lernen, weiterzuvermitteln, zu pflegen. „Erhalten und Gestalten“ war das Thema dieser Tage, die bienenfleißig und gleichzeitig ansteckend fröhlich viel zu schnell verflogen. Eine Vorstellungsrunde der Werkmeisterinnen und der Teilnehmerinnen, der Vorhaben und Beweggründe setzte den Auftakt, und später saßen wir noch in angeregter Runde in der „Höhle“, zum einzigen Mal übrigens, da an den folgenden Tagen alle anderweitig beschäftigt waren!
Ich war zum ersten Mal dabei, mit Abstand die Jüngste, aber ich blieb nicht lange fremd in der warmen Gemeinschaft, und das nicht nur durch meinen Vortrag über Agnes Miegel am ersten Abend, der freundlich und interessiert aufgenommen wurde. Bei diesem Anlaß stellte sich mir schon der „Weberknecht“ vor, der Meister am Webstuhl, Lm. Peters aus Königsluther, der den Trachtennäherinnen die kostbaren handgewebten Stoffe für ihre West- und Ostdeutschlandkleider mitbrachte. Und dann konnte es ja losgehen!
Morgens weckte ein kleiner Chor fröhlicher Stimmen mit einem Lied, das summend und pfeifend den halben Tag lang weiterklang, und vor dem Frühstück faßten sich alle an den Händen und lauschten dem Sinnspruch, den Uta Lüttich aus- gesucht hatte. Nach dem Morgenmahl fanden sich alle im neuen Preußensaal zum Singen ein, das Frau Adomeit leitete. Da erklangen bekannte und unbekanntere ostdeutsche Volkslieder , einstimmig, mehrstimmig und im Kanon, und jeden Tag stimmte uns diese Singstunde zur Arbeit ein, denn wie ein liebes Ritual wiederholten sich stets das Spinnstubenlied „Dreh dich, dreh dich, Rädchen, spinne mir ein Fäd- chen ...“ (eine Teilnehmerin arbeitete derweilen tatsächlich am bereitstehenden Spinnrad) und der Kanon „Fangt an!“
Nun also beugten sich die Stikkerinnen bei Frau Tenzer eifrig über ihre Kreuzstichmuster oder das zarte Rankenwerk spinnwebfeiner Weißstickerei, die Strickerinnen bei Frau Bartholomeyczik ließen die Nadeln klappern an ihren Doppelstrickarbeiten und vielfarbig bunten ostdeutschen „Hanschkes“ in verschiedenen Techniken und regionalen Traditionen, bei den Weberinnen unter der Anleitung von Frau Adomeit und Frau Nolde glitten die Schiffchen durch den Webrahmen und schufen harmonische bunte Webbilder oder gar Doppelwebereien, während die Trachtenschneiderinnen nach und nach lernten, wie eine ost- oder westpreußische Tracht gearbeitet sein muß.
Für jede Näherin fertigte Frau Huwe einen eigenen Maßschnitt an und schnitt uns die Stoffe zu, während Frau Puckaß unsere ersten Nähversuche an Musterlappen betreute, denn wer weiß schon vorher, wie eine Schnurpaspel genäht wird, wie die winzigen Mausezäckchen an den Blusenborten entstehen oder gar wie ein Paspelknopfloch gearbeitet wird? Aber kaum ist man so richtig vertieft in die Arbeit, hat eine neue Technik endlich begriffen und bekam die notwendige Beratung zum eigenen Werkstück, ist es viel zu früh schon wieder Essenszeit!
Ja, schön ist auch das, sich an den gedeckten Tisch setzen zu dürfen, sich um keine Haushaltsdinge kümmern zu müssen, lekkere ostdeutsche Küche zu genießen und danach vielleicht gleich wieder die unterbrochene Arbeit aufzunehmen. Einige gönnten sich eine Ruhezeit nach Tisch, andere besuchten das nahe Schwimmbad, um die vom langen Sitzen steifen Glieder zu lockern. Zweimal fand sich zu dieser Stunde ein kleiner Volkstanzkreis zusammen, um unter Frau Adomeits Leitung zwei Tänze für den Bunten Abend einzuüben. Dann stand schon der Kaffee in den verschiedenen Werkräumen bereit, ohne große Pausen konnte man sich neben der Arbeit damit erfrischen.
Wie viele Arbeitsgänge mit überwiegend Handarbeit stecken in einem Trachtenmieder, einer Bluse, einer Jacke, einem Rock! Ermessen kann das nur, wer sich selbst einmal damit befaßt hat, und dazu kommt noch manches Rückwärtsnähen, um Fehler und Pannen wieder zu reparieren. Doch mit schier unerschöpflicher Geduld und Freundlichkeit standen uns wie in den anderen Gruppen die sachkundigen Werkmeisterinnen zur Seite und halfen, berieten, ermutigten, erklärten, zeigten. Solchermaßen „betreutes Nähen“ ermöglichte auch manchen rascheren Fortgang der Arbeit, weil man ja eigentlich nur die halbe Verantwortung für das eigene Werk tragen muß und die Meisterinnen wie gute Feen ihren Segen darauf legen.
Irgendwann im Laufe des Nachmittags kommen Frau Adomeit und Frau Lüttich zur Bewegungspause. Alle stehen, und zu einem fröhlichen Liedchen werden Arme und Schultern wohltuend gelockert, die angestrengten Augen entspannen sich und lachen wieder, und mit neuem Eifer geht die Arbeit nachher viel besser von der Hand.
Nach dem Abendessen kann man noch besondere Werkangebote wahrnehmen, etwa Engel oder Bärchen basteln, Spinnen oder das Weben von Jostenbändern lernen, jedem kunstreichen traditionellen Musterband mit unendlich vielen Verwendungsmöglichkeiten vom Gürtel bis zum Wiegenband, vom Halsschmuck bis zum Lesezeichen. Unendlich verlockend sind die Möglichkeiten, aber auch die eigene Arbeit drängt, der Ehrgeiz packt einen, und unversehens sitzt man wieder Stunden um Stunden daran, bis Mitternacht lange vorüber ist ...
Die von Tag zu Tag zunehmende Müdigkeit aber läßt sich unschwer beherrschen in dieser so fröhlichen und ansteckend disziplinierten Gemeinschaft. Da lächelt man auch aus müden Augen das Gegenüber beim Frühstück an, da sitzt man gleich gerader und beginnt singend sein Tagwerk. Und es ist eine Kraft, die aus den Ritualen und dem herzenswarmen Geist der Gemeinschaft den einzelnen berührt und stark macht, es ist eine unverzärtelte, mitunter derbe Nüchternheit und Strenge, die gleichwohl voller Liebe und Lachen ist. Man denkt an preußische Tugenden und an resolute Großmuttergestalten aus ostdeutschen Dichtungen und wird getragen von dem Lächeln in so vielen Augen. Wohl auch daher gewann ich das Durchhaltevermögen und die Energie, mein Westpreußenkleid samt Bluse und Schütze ganz fertigzustellen, was anscheinend noch nicht vorgekommen war. Stolz konnte ich es anziehen, als am Samstag nachmittag in einer Feierstunde all die wunderschönen, kunstreichen Handarbeiten in einer Ausstellung zusammengetragen wurden und Zeugnis ablegten von der Vielfalt und Pracht der alten textilen Volkskunsttechniken, die nicht vergessen werden dürfen. Hier bekam nun jeder auch Einblick in die Arbeit der anderen Gruppen, konnte den Fleiß und die neu erworbene Kompetenz der anderen bewundern und sich vielleicht vornehmen, beim nächsten Mal selbst wieder etwas Neues zu lernen.
Mit dem Bunten Abend klangen die gemeinsamen Arbeitstage aus. Frau Nolde und Frau Bartholomeyczik wurden mit herzlich ihre Arbeit würdigenden Worten als Werkmeisterinnen verabschiedet, dann wurde gesungen und fröhlich plachandert, Gedichte und Geschichten vorgetragen, Volkstanz und Flötenstück dargeboten, Zeit zum Gespräch genutzt, Gelegenheit zu näherem Kennenlernen wahrgenommen. Und am nächsten Morgen nach dem Frühstück ging man auseinander. Wie viele werden sich bei der nächsten Werkwoche im November 2002 wiedersehen können? Marianne Kopp
Nach alter Sitte: Wie einst die Mütter und die Großmütter spinnt eine Teilnehmerin Garn. Für viele offenbart sich hier der Reichtum ostdeutschen Brauchtums im Bereich der textilen Volkskunst
Eine Teilnehmerin führt ihre Webkunst vor: Für den Winter ein warmes Deckchen
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