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Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges waren die auf Seiten Deutschlands gegen Stalins Herrschaft in ihrer Heimat kämpfenden Russen nie in einem Verband vereint. Das lag zum einen an der Führung des Dritten Reiches, die sich nur schwer mit der Vorstellung einer verbündeten russischen Streitmacht anfreunden konnte. Es lag aber auch an der Heterogenität der Russen. Da gab es Russen wie Andrej Andrejewitsch Wlassow, die lange auf Seiten der Bolschewisten gestanden hatten und erst im Zweiten Weltkrieg nach ihrer Gefangennahme durch die Deutschen gegen Stalin aufgestanden waren. Und es gab Weiße wie Boris Graf Smyslowsky, die nach dem Sturz der Zarenherrschaft in ihrem Lande ins Exil gegangen waren. Beide Russen stellten nebeneinander zwei unterschiedliche Verbände auf. Gefördert wurde diese Zweigleisigkeit durch die Heterogenität der Deutschen, die sich ihrerseits nicht einig waren, wer zu fördern sei. Während die NSDAP samt ihren Gliederungen entsprechend ihrem totalitären Charakter und ihrem revolutionären Selbstverständnis eher dem ehemaligen Roten Wlassow den Vorzug gab, der dann die Russische Befreiungsarmee aufbaute, bevorzugte die konservativere Wehrmacht den weißen Grafen.
Bei Ausbruch des deutsch-sowjetischen Krieges wurde der ehemalige Garde-Offizier der zaristischen Armee im Range eines Majors im Generalstab in das deutsche Heer übernommen. Bereits im Juli des Jahres 1941 stellte er im Nordabschnitt der Ostfront ein russisches "Lehrbataillon für Feindabwehr und Nachrichtendienst" auf. 1943 erhielt er die Genehmigung, aus seinen Landsleuten eine "Sonderdivision R" aufzustellen, wobei "R" für "Rußland" steht. Aus ihr wurde die "Erste Nationale Russische Division" und am 4. April 1945 schließlich die "Erste Nationale Russische Armee". Ebenso wie Wlassows Russische Befreiungsarmee konnte auch diese Armee das Blatt nicht mehr wenden. Smyslowsky war intelligent und realistisch genug, dieses rechtzeitig zu erkennen. Die Russen befanden sich in einer noch größeren Gefahr als die Deutschen, denn während bei ihren deutschen Waffenbrüdern auf die Gefangennahme "nur" die Kriegsgefangenschaft folgte, wartete auf sie die Exekution wegen angeblicher Kollaboration mit dem Feind. Auch die Flucht in westalliierte Kriegsgefangenschaft war keine Alternative, da die Westalliierten sich auf der Konferenz von Jalta verpflichtet hatten, Russen und Kosaken an ihren sowjetischen Verbündeten auszuliefern.
So wählte Smyslowsky, inzwischen Generalmajor, gegen Kriegsende für sich und die verbliebenen rund 500 Männer seiner Armee die Internierung durch eine neutrale Macht. Am 18. April 1945 verkündete er seinen Mannen: "Die Kapitulation Deutschlands ist unvermeidlich. Wir können ihren Ausgang nicht tatenlos abwarten, sondern müssen die Zeit nutzen. Daher befehle ich der Truppe, sich in der Richtung zur neutralen Schweiz in Bewegung zu setzen ..." Sein Ziel war tatsächlich ein neutraler Staat, aber es war nicht die Schweiz. Er entschied sich für einen Staat, der zu schwach war, einen Grenzdurchbruch seiner Männer zu verhindern, der aber stark genug war, den seitens Stalins zu erwartenden Auslieferungsforderungen zu widerstehen. Seine Wahl fiel auf Liechtenstein. Möglicherweise spielte dabei eine Rolle, daß die Mutter der Fürstin von und zu Liechtenstein ihm einmal als junger Mann das Leben gerettet hatte. Wie dem auch sei: Nach diversen Täuschungsmanövern erfolgte im Dunkel der Nacht vom 2. zum 3. Mai bei Schellenberg der Grenzübertritt von der Ostmark des Großdeutschen Reiches zum Fürstentum Liechtenstein. Überrascht und unvorbereitet hatten die wenigen Grenzwächter gegen den von einem Schützenpanzer angeführten Troß keine Chance. Zu Schaden kam bei der Aktion zum Glück niemand.
Smyslowsky hatte sich in den Liechtensteinern nicht getäuscht. Nachdem die Russen einmal im Lande waren, verhielt sich der Kleinstaat ihnen gegenüber korrekt und im Rahmen seiner beschränkten Möglichkeiten sogar generös. Die Russen wurden wie gewünscht interniert, und das unter einwandfreien, humanen Bedingungen. Die Nagelprobe bestanden die Liechtensteiner, als der "David ohne Schleuder" dem roten Goliath widerstand und nicht den sowjetischen Forderungen nach Auslieferung nachkam. Einige Russen plagte das Heimweh so sehr, daß sie freiwillig heimkehrten. Sie konnte keiner aufhalten. Die meisten jedoch entschieden sich für das Leben. Ein Großteil von ihnen wanderte aus, viele ins deutschfreundliche Argentinien. Die wenigsten blieben in Liechtenstein.
Genau 35 Jahre später wurde an der Stätte des denkwürdigen Grenzübertrittes im Beisein des Fürstenhauses ein Gedenkstein enthüllt. Smyslowsky war es vergönnt dabeizusein. Seine Dankesworte an die Gastgeber von einst endeten mit dem verständlichen Wunsch "Möge der heilige Gott das Fürstentum Liechtenstein segnen!" D. Beutler |
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