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Johann Daniel Gerstein, Jahrgang 1930, war 28 Jahre bei der Löwenbrauerei München tätig, davon 15 Jahre als Vorstandsmitglied für das Auslandsgeschäft. Anschließend wurde er Berufsberater und Partner der v. Rundstedt GmbH und Lehrbeauftragter für Bewerbungsstrategien an der Fachhochschule München. Daneben ist der Autor mit Büchern über Leben und Wandern im Pfaffenwinkel, einem Jagdbuch sowie einem Sachbuch über Bewerbungsstrategien bekannt geworden. Jetzt schrieb der Jurist und Jäger unter dem Titel "Zwischen Schreibtisch und Gummistiefeln" seine Lebenserinnerungen. Ein Teil davon gilt der Kinderlandverschickung von Frühling bis Herbst 1943 auf die Frische Nehrung. Als Qintaner erlebte der geborene Dortmunder eine unberührte Natur, die ihn so angezogen hat, daß er die Nehrung in den 70er Jahren wieder besuchte.
Die etwa 40 Jungen wohnten in einem ehemaligen Marineerholungsheim mitten in Vogelsang. Ein Foto zeigt den Morgenappell mit Hissen der NS-Fahne, wie das damals üblich war. Geländespiele und Boxunterricht ergänzten den Schulunterricht, der von markigen Sprüchen durchsetzt war. Gerstein baute sich ein Freilandterrarium: "An Kreuzottern und Ringelnattern war kein Mangel, Frösche, Mäuse und Eidechsen gab es ebenfalls in Mengen, und so konnte ich interessierten Mitschülern bald meine Schätze zeigen. Vor allem die schwarze Abart der Kreuzotter, die sogenannte Moorotter, beeindruckte sie sehr."
Die jungen Dortmunder fuhren per Eisenbahn nach Danzig und Gotenhafen, Hohenstein, Allenstein und Königsberg. "Dort wurde ich von den Wirtsleuten am Heumarkt 7 mit ,Junges Haarche angeredet und bekam eine Zigarette, die ich tapfer rauchte."
Ende der 70er Jahre kam Gerstein mit dem Münchner Presseclub erneut nach Ostdeutschland. In Danzig schwänzte er für einen Tag das offizielle Programm und fuhr mit einem deutschsprechenden Taxifahrer auf die Frische Nehrung. "Es war nichts, aber auch gar nichts zu erkennen, an das ich Erinnerungen hätte knüpfen können. Gleich geblieben war nur die schöne, schwermütige Landschaft. Das Dorf Vogelsang existierte auch dem Namen nach nicht mehr. Es gab da, wo es einmal gestanden hatte, ein kleines Dorf, das nach Auskunft des Chauffeurs auf der Karte mit ,Land der Lerche bezeichnet war.
Niemand konnte sich mehr an Vogelsang erinnern, einer verwies jedoch auf eine mit einem Polen verheiratete Frau deutscher Abstammung zwei Dörfer weiter. Gerstein fand sie. "Als ich ihr den Grund meiner Reise nannte, war es um ihre Fassung geschehen. Sie weinte gottjämmerlich und stieß unter Tränen schluchzend die deutschen Worte hervor: ,Ich war Küchenmädchen in Deinem Lager. "
Nachdem der Besucher aus der Bundesrepublik Deutschland sie beschenkt hatte, führte sie ihn durch die Wohnküche in das Schlafzimmer. Dort griff sie unter das Ehebett und holte einen riesigen Räucheraal hervor, den sie ihm unter einem geschluchzten "Danke" in die Hand drückte.
Wie so viele andere Deutsche auch, schickte Gerstein der Frau später noch zweimal Geld, ohne jedoch eine Antwort zu erhalten.
Ostdeutschland begegnete Gerstein in der Person des Tierfilmers Heinz Sielmann wieder, der ihm erzählte, wie er bereits als Abiturient in Ostdeutschland mit dem Filmen begonnen hatte. Die beiden schlossen Freundschaft und bereisten zusammen Ruanda und 1990 Indien.
Johann Daniel Gerstein: "Zwischen Schreibtisch und Gummistiefeln", Peniope Verlag, München 2005, 173 Seiten, kart., 16,80 Euro 5607 |
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