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In seinem Buch "So enden die Demokratien" (Verlag Piper 1984) zitiert Jean-François Revel seinen Landsmann Alexis de Toqueville, der eine Art Ersticken der Demokratie an ihr selber voraussagt. Toqueville beschreibt dieses letzte Stadium als eine "sanfte Diktatur der öffentlichen Meinung", als das Zeitalter der Gleichartigkeit der Gefühle, Ideen, Vorlieben, Sitten, welche die Bürger einer Sklaverei unterwirft, die nicht durch äußeren Zwang entsteht, sondern durch eigenes überwältigendes miteinander Einverstanden sein. Die Verschiedenheit wird aus der Gesellschaft immer mehr verbannt, und zwar nicht durch Zensur, sondern durch Mißbilligung oder bloße Gleichgültigkeit.
Aus der von Toqueville vor gut 150 Jahren vorhergesagten sanften Diktatur der öffentlichen Meinung ist mittlerweile in weiten Bereichen des gesellschaftlichen und politischen Lebens eine oft unerbittliche, an den Rigorismus Robespierres erinnernde, alleinseligmachende Herrschaft der Political Correctness getreten. Der hieraus sich entwickelnde Zeitgeist ist ja nun nicht das Produkt bundesweiter Wahlen. Er speist sich vielmehr aus ideologisch fundierten Denk- und Verhaltensmustern, oft in bester Absicht entworfen, doch in sträflicher Weise die Realitäten dieser Welt mißachtend und die Augen verschließend vor den gescheiterten Versuchen des Marxismus/Kommunismus und des Nazismus, die menschliche Natur gewaltsam zu verändern. Vor diesem blutgetränkten Hintergrund ist es schon verwunderlich, mit welcher Ausdauer neue Lenkungs- und Gängelungsmodelle in den Markt gebracht werden und wie die Entscheidungsträger in den Massenmedien, ob Presse, Radio oder Fernsehen, überwiegend kritiklos gutmenschliche Philosophien verbreiten und somit zum "Trendsetter" werden, letztlich also Meinungs- und Verhaltensmuster schaffen.
Tabuzonen entstehen, Abweichler werden schnell zu Aussätzigen, die man gern aus der Gesellschaft verbannen möchte, Meinungsfreiheit und Toleranz nehmen schaden. Warnende Stimmen sind kaum bekannt, jedenfalls nicht einer breiteren Öffentlichkeit, so etwa das Zitat von Sir Charles Popper, wonach der, welcher den Himmel auf Erden verspricht, verantworten muß, wenn daraus die Hölle entsteht.
Ein von Political Correctness geprägter Zeitgeist mag vieles bewirken, eines aber mit Sicherheit nicht, die Heranbildung mündiger Bürger, ohne die eine freiheitliche Demokratie nicht leben kann.
In einer Fernsehdiskussion im Frühjahr 2003 sprach Professor Gertrud Höhler vom Hang zur Schwärmerei, aber auch zur Bequemlichkeit, der im Deutschland der Jahrtausendwende typisch geworden sei. Sollten sich in diesen Charakteristika etwa die Folgen jahrzehntelanger "zeitgeistlicher" Berieselungen offenbaren? Zu den Merkmalen mündiger Bürger zählen beide jedenfalls nicht. In ihrem 1981 bei Econ erschienenen Buch "Das Glück" skizziert Prof. Gertrud Höhler die Enteignung unserer Erfahrungsspielräume "Hungrig auf Erfahrungen sind wir willige Abnehmer bei den Lieferanten von Sekundärerfahrung, Leben aus zweiter Hand, das uns um unser eigenes betrügt: Als hätten wir soeben wirklich tief ins Leben geschaut, strecken wir uns behaglich auf unserem Sessel; als hätten wir gedacht, was der Kommentator vordachte; als hätten wir Schlüsse gezogen, verarbeitet, verstanden: Erfahrungen sammeln ..."
Dieses Zitat wirft ein Schlaglicht auf die Problematik beim Wiederaufbau eigener Erfahrungswerte im Informationszeitalter und auf die Gefahr, das Virtuelle mit dem Realen zu verwechseln.
Der Pädagoge Friedrich Wilhelm Foerster hat schon im Jahre 1910 in seinem Buch über Autorität und Freiheit bemerkt: "Generationen, deren Charakterbildung nicht mehr von unantastbaren Wahrheiten bestimmt werden, breiten die geistig-sittliche Anarchie auf immer weitere Kreise aus".
Foerster bezweifelt daher die Haltbarkeit einer wissenschaftlichen Position, die davon ausgeht, daß auf der Grundlage einer gelungenen Emanzipation ein stabiles Modell der Moderne entstehen könnte. Seine Frage an den modernen und emanzipatorischen Menschentyp lautet: "Ihr redet immer von der Autonomie des Individuums - habt ihr denn auch schon einmal über seine Kompetenz nachgedacht?"
Steht diese Frage nicht heute genau so aktuell im Raum, wie vor 100 Jahren? Hat die "zeitgeistliche" Enge, der Hang zur Ausgrenzung anders Denkender, die Lächerlichmachung traditioneller Wertvorstellungen, die Selbstverherrlichung des Individuums und dessen Selbstverwirklichung durch schrankenlosen Egoismus irgend etwas beigetragen zur Heranbildung und Förderung mündiger Bürger?
Professor Paul Kirchhof, ehemals Bundesverfassungsrichter, mahnt: "Ein freiheitlicher Staat kann nur gelingen, wenn die Freiheitsberechtigten eine verläßliche gemeinsame Grundorientierung haben und danach handeln."
Der "mainstream" des "Zeitgeistes" hat hingegen kräftig dazu beigetragen, gesinnungsdemokratisches Denken und Handeln zu fördern. Höchste Zeit, sich der Warnung Gerhard Löwenthals zu erinnern: "Wer Angst hat, sich die Zunge zu verbrennen, leistet denen Vorschub, die dereinst befehlen, sie ihm herauszureißen."
Die freiheitliche Demokratie ist nicht per Knopfdruck abrufbar, sie stellt eine permanente Herausforderung an alle verantwortlich fühlenden mündigen Bürger dar, sie mit Leben zu erfüllen und allen Versuchen totalitärer Gleichschaltung mutig entgegenzutreten.
Prof. Gertrud Höhler: Der Mensch wird zu unkritisch. /font>
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