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Schon einmal hatte die angesehene liberale Kopenhagener Tageszeitung "Politiken" die Frage der Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten aufgegriffen. Bereits um Pfingsten 1999 griff das Blatt erstmals das dänische Tabuthema der deutschen Flüchtlinge in dänischen Lagern nach 1945 auf. Der Artikel sorgte sowohl in der dänischen als auch in der deutschen Öffentlichkeit für erhebliches Aufsehen (Das berichtete).
Kürzlich nun berichtete David Gress über das "letzte Tabu", wie die Zeitung titelte. Gress ist außerordentlicher Professor für Griechisch und Latein an der Universität Aarhus sowie leitender Forscher des Dänischen Instituts für Auswärtige Angelegenheiten. Bekannt geworden ist er vor allem durch sein kulturkritisches Werk "Von Plato zur Nato" (New York 1998), in dem er mit dem politisch-korrekten und postmodernen Kulturbegriff abrechnet.
Auch die neueste Abrechnung von David Gress in der Zeitung "Politiken" beschreibt, was der Durchschnittskonsument von Zeitung und Fernsehen bis heute oft genug nicht wissen will. "Die Vertreibung der Deutschen aus dem östlichen Deutschland und dem östlichen Europa zwischen 1944 und 1950", meint Gress, "ist die größte ,ethnische Säuberung der Weltgeschichte und das letzte Tabu des 20. Jahrhunderts". In seinem über zwei Seiten reichenden Artikel nimmt er sich auch des Themas Ostdeutschland an. Viele Dänen erfuhren wohl so erstmals etwas über Nemmersdorf und den Untergang Königsbergs.
Der Autor nennt auch den russischen Dichter Alexander Solschenizyn, der an der Sowjet-Invasion von Ostdeutschland teilnahm. In seinem Gedichtzyklus "Preußische Nächte" beschreibt Solschenizyn der Trilogie "Archipel Gulag" seine Erlebnissse:
"Jungfrauen werden zu Frauen,
Und Frauen bald zur Leich,
Benebelt, mit blutigen Augen,
Bitten sie: Töte mich, Soldat!"
Der russische Dichter saß acht Jahre in Sowjetlagern unter anderem auch wegen seiner kritischen Äußerungen über die Behandlung deutscher Zivilisten durch die vorrückenden Sowjets. Solschenizyn habe, so Gress, berichtet, daß es nach drei Wochen Krieg auf deutschem Boden jedem Sowjetsoldaten bekannt gewesen sei, daß man "berechtigt" sei, deutsche Mädchen zu vergewaltigen, und sie danach erschießen durfte; das habe dann als eine vom Kriegsrecht abgedeckte Handlung gegolten.
Voller Bewunderung äußert sich Gress auch über die einzigartige logistische Leistung der Flüchtlingsrettung über Pillau und Hela in noch unbesetzte Häfen unter anderem nach Kopenhagen. Die Lage der in Ostdeutschland Zurückgebliebenen schildert er eindrucksvoll.
Auch der US-Diplomat und Historiker George F. Kennan, der 1945 bis 1947 in Moskau seinen Dienst tat und im Sommer 1945 von dort in das verlassene Ostdeutschland flog, kommt zu Wort: "Die Katastrophe, die diesem Gebiet mit dem Einmarsch der sowjetischen Truppen widerfuhr, sucht ihresgleichen in der neueren europäischen Geschichte.
Ich sah ein gänzlich zerstörtes und verlassenes Land, ohne ein Lebenszeichen von einem Ende bis zum anderen. Die Russen haben die einheimische Bevölkerung auf eine Weise fortgefegt, die beispiellos ist seit den Tagen der asiatischen Horden."
Manche der abgedruckten Photographien, die in Deutschland einem interessierten Publikum bereits seit längerem bekannt sind, dürften dem durchschnittlichen dänischen Leser neu gewesen sein. Insbesondere stützte er sich dabei auf die Forschungen von Heinz Nawratil ("Schwarzbuch der Vertreibung 1945 bis 1948", Universitas-Verlag, München 2000).
Gress räumt mit dem auch von deutschen Historikern (etwa Martin Broszat) immer wieder gern wiederholten Vorurteil auf, die Vertreibung sei lediglich eine Reaktion auf deutsche Kriegsgreuel und deutsche Vertreibungspläne im Osten. Er stellt fest: die Vertreibungen der Deutschen waren schon lange vor dem Beginn der Kriegshandlungen im Osten 1941 geplant worden.
Das Thema der Vertreibung, so der dänische Professor, warte noch immer auf die Dichter und die Filmemacher. Sie sei die einzige große Menschheitskatastrophe in der neueren Zeit, die noch nicht in einem international bekannten Film oder einem großen Roman erzählt worden sei. Zwar habe es einen eher unprätentiösen Film über den Untergang der "Wilhelm Gustloff" gegeben ("Nacht fiel über Gotenhafen" von 1958), aber einen Film wie "Titanic" habe es nicht gegeben. Kein Primo Levi und kein Claude Lanzmann habe sich des tragischen Stoffs angenommen.
Das deutsche Schweigen zum Thema Vertreibung, zur "größten historischen Katastrophe seit dem Dreißigjährigen Krieg", spiegele den "deutschen Hang zur übertriebenen Selbstkritik" wider, wie dies der amerikanische Historiker Alfred de Zayas nannte. Der antideutsche Flügel der deutschen Linken muß sich von David Gress in diesem Zusammenhang ebenso Kritik gefallen lassen wie der vormalige Bundespräsident Richard v. Weizsäcker. Nicht nur deshalb verweist Gress auf die Notwendigkeit, sich der Vertreibung der Deutschen zu erinnern. Es war der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, José Ayala Lasso, der schon 1995 betont habe, daß, "wenn sich die Staaten mehr der Vertreibung der Deutschen erinnert hätten, die Katastrophen und Vertreibungen, wie sie zur Zeit geschehen" (damals auf dem Balkan und in Afrika) "vielleicht nicht im selben Umfange passiert" wären.
Zu lernen wäre, daß sich aus der Geschichte eben nicht nur selektiv aus einigen wenigen Ereignissen wiederum etwas lernen ließe. Vielleicht vor allem das: nämlich daß Menschenrechtsverletzungen "nicht deshalb weniger schmerzen, weil sie Menschen erdulden mußten, die einer besiegten Nation angehören". Es ist bezeichnend, daß ein Däne kommen muß, um uns diese einfache Wahrheit zu sagen.
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