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Dekrete längst aufgehoben

 
     
 
Die Nachricht kam einer Sensation gleich, und noch immer wissen offizielle Stellen nicht so recht, wie sie damit umgehen sollen: Bei Nachforschungen in der Datenbank des polnischen Parlaments, dem Sejm, hat der Zeitgeschichtler Wlodzimierz Borodziej entdeckt, daß die sogenannten Vertreibungsdekrete von polnischer Seite längst aufgehoben worden sind. Der archivarische Dienst des Parlaments habe inzwischen "bestätigt, daß es entsprechende Dokumente gibt, die jene polnischen Rechtsakte zum größten Teil gegenstandslos machen, die im Zusammenhang mit der Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten des Deutschen Reichs am Ende des Zweiten Weltkrieg
s gesehen werden".

Diesen Sachstand hat Michael Ludwig, Warschau-Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, in einem Telefonat der Redaktion des es / mitgeteilt. Die FAZ hatte berichtet, schon in der Einleitung zu einer Dokumentation über die Vertreibung der Deutschen, die Borodziej und der deutsche Historiker Hans Lemberg herausgegeben haben ("Deutsche in Polen 1945-1950"), sei festgehalten, daß

• das Gesetz über die Amnestie für angebliche "Verräter am polnischen Volkstum" vom 30. Dezember 1949 und

• das Staatsbürgerschaftsgesetz vom 19. Januar 1951

die gegen die Deutschen gerichteten Rechtsakte förmlich aufhoben. Borodziej: "Das ist jedoch nicht beachtet worden."

Bei den Vertreibungsakten handelte es sich im wesentlichen um das "Gesetz über den Ausschluß feindlicher Elemente aus der polnischen Gesellschaft" vom 6. Mai 1945 sowie um das "Dekret über die strafrechtliche Verantwortlichkeit für die Verleugnung der polnischen Nationalität während der Kriegszeit in den Jahren von 1939 bis 1945", das am 28. Juni 1946 in Kraft trat. Das erstgenannte Gesetz habe sich gegen die Polen gerichtet, die sich vor dem Krieg zur deutschen Nationalität bekannt hatten. Sie waren, schreibt Michael Ludwig, nach dem Krieg als Feinde betrachtet, ihr Vermögen war eingezogen worden und sie sollten deportiert werden. Das Dekret habe sich statt dessen gegen polnische Staatsbürger polnischer Nationalität gerichtet, die während der deutschen Besetzung die deutsche Volksliste unterzeichnet hatten, weil von den Nationalsozialisten als "eindeutschungsfähig" eingestuft.

Aber auch er selbst war von den Ergebnissen seiner weiteren Nachforschungen überrascht worden, die er auf hartnäckige Nachfragen der FAZ anstellte, bekundete Borodziej. So zeigte sich plötzlich, daß auch jene Rechtsakte, in denen der Einzug des Vermögens der vertriebenen Deutschen verfügt worden war, längst aufgehoben wurden; das betrifft insbesondere das "Gesetz über das verlassene und aufgegebene Vermögen" vom 6. Mai 1945. Diese Akte seien am 29. April 1985 außer Kraft getreten, als das "Gesetz über Raumwirtschaft und die Enteignung von Grund und Boden" beschlossen wurde. Das, so vermutet der Historiker, sei im Ausland nicht beachtet worden, weil Polen zu dieser Zeit international isoliert gewesen sei. Und auch im Land selbst war sich wohl niemand darüber im klaren, daß dieses Gesetz die deutsche Frage einschloß.

Weiterhin gültig ist nach Erkenntnissen Borodziejs, der unlängst mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurde, das sogenannte Nationalisierungsgesetz vom 3. Januar 1946. Dieses "Gesetz betreffend die Übernahme der Grundzweige der nationalen Wirtschaft in das Eigentum des Staates" habe aber nicht nur deutsches, sondern auch polnisches Vermögen betroffen. Daß keine Partei in Polen an seine Aufhebung denke, habe nichts mit Deutschland zu tun, versicherte der Historiker der FAZ.

Allerdings: Den polnischen Kommunisten war es nicht um Aussöhnung mit Deutschland gegangen, als sie die "Aufhebungsgesetze" beschlossen, gibt auch Wlodzimierz Borodziej zu. Sie hätten vielmehr beabsichtigt, nach der "Lösung der deutschen Frage" eine homogene stalinistische Gesellschaft zu formieren. Zitat aus der FAZ: "Dokumente des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei zeigten, daß man damals auch die zu entrechteten Außenseitern gemachten Deutschen als Rekrutierungsbasis für das System ansah."

Für den Historiker Borodziej ist jedenfalls grundsätzlich klar, daß es - anders als in der Tschechoslowakei - in Polen bei Kriegsende keine explicite Vertreibungsgesetzgebung nach Art der Benesch-Dekrete gegeben habe. Gleichwohl sei es in seiner Heimat längst kein Tabu mehr, über Entrechtung der Deutschen und die Einziehung ihres Vermögens als Folgen von diversen Gesetzen, Verordnungen und Dekreten zu reden.

Daß die Vorgänge überhaupt so lange im Verborgenen geblieben waren und auch von polnischer Seite nicht erforscht worden sind, hat laut FAZ-Autor Ludwig einen profanen Grund: "In diesem Archiv herrscht wegen der Vielzahl der Dokumente, gelinde gesagt, ein rechtes Durcheinander. Man muß schon verbissener Zeitgeschichtler sein und - trotz Computerhilfe - viel, sehr viel Zeit mitbringen, um sich zurecht zu finden", verriet er dem /. So hätten selbst polnische Stellen den Fortgang der Gesetzgebung nicht weiter verfolgt und auf ihre Wirkung hin überprüft.

Offizielle Stellungnahmen zu den brisanten Funden im Sejm-Archiv liegen bislang weder aus Warschau noch aus Berlin vor. Juristen und Völkerrechtler haben nach Informationen von FAZ-Autor Ludwig damit begonnen, zu prüfen und abzuwägen. Widersprochen habe dem Historiker indes niemand.

Widersprochen haben Polens Politiker dafür - in unterschiedlicher Abstimmung der Tonart - dem Kanzlerkandidaten der Union, Edmund Stoiber, auf dessen Vorstoß zur Annullierung aller Vertreibungs- und Entrechtungsdekrete. Die Reaktionen, die freilich äußerst zurückhaltend und moderat ausfielen, deuten darauf hin, daß auch in polnischen Regierungskreisen bis zu diesem Zeitpunkt das "Sejm-Geheimnis" noch unentdeckt war.

Die möglichen Folgerungen hat Historiker Brodziej in einem Gespräch mit der polnischen Zeitung Dziennik Polski vorweggenommen. Auf die Frage, was es in der Praxis bedeute, daß in Polen keine juristischen Grundlagen, die deutsche Frage betreffend, mehr gelten, antwortete der Wissenschaftler: "Daß die Aussage von Edmund Stoiber gegenstandslos war."

Der deutsche Politiker, der als erster unter den neuen Vorzeichen Gespräche in Polen führte, war der ehemalige CDU-Vorsitzende Wolfgang Schäuble. In Warschau mußte sich Schäuble am 28. Juni, just dem Tag der FAZ-Veröffentlichung, von seinen Gastgebern "einiges anhören", bestätigte Korrespondent Ludwig im Gespräch mit dem /. Am feinsinnigsten muß wohl Präsident Aleksander Kwasniewski vorgegangen sein, der von Beginn an die Stoiber-Rede zurückhaltend bewertet hatte. Seinem Gast aus Berlin erklärte er, es gebe in Polen drei Grundsätze im Wahlkampf: keine Attacken gegen Deutschland, keine Attacken gegen Rußland und die EU-Frage bleibe außen vor. Er sei erstaunt, daß es im deutschen Wahlkampf derlei Maxime nicht gebe. E. Wenze
 
     
     
 
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