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In den Ersten Weltkrieg ging das Deutsche Reich mit dem Schlieffen-Plan. Als erstes sollte die westliche Flügelmacht durch eine kraftvolle Offensive niedergeworfen werden, um sich dann mit allen Kräften der langsam anrollenden russischen Dampfwalze entgegenstellen zu können. Die Realität sah im Grunde umgekehrt aus. Den Franzosen gelang es mit angelsächsischer Unterstützung, die deutsche Offensive vor Paris zu stoppen, und so erwies sich die deutsche Hoffnung auf ein vorzeitiges Ausscheiden Frankreichs aus dem Kreise der Kriegsgegner als Illusion. Dafür gelang es der deutschen Kriegspartei jedoch, mit der östlichen Flügelmacht einen vorzeitigen Separatfrieden zu schließen. Statt durch den geplanten Sieg über die Französische Republik wurde der Zweifrontenkrieg gegen die beiden im Westen und Osten angrenzenden Großmächte durch einen Sonderfrieden mit Rußland beendet, den Frieden von Brest-Litowsk.
"Der Sieg und als Preis der erste Platz in der Welt ist aber unser, wenn es gelingt, Rußland rechtzeitig zu revolutionieren und dadurch die Koalition zu sprengen." Mit diesen Worten beschrieb der deutsche Spitzendiplomat Ulrich Graf v. Brockdorff-Rantzau bereits im Dezember 1915 die Lage. Um die Revolutionierung des eurasischen Kriegsgegners voranzutreiben, förderten die Deutschen den Revolutionär Wladimir I. Lenin nicht zuletzt dadurch, daß sie ihm 1917 die Rückkehr in seine Heimat über ihr Staatsgebiet ermöglichten. Noch im selben Jahr putschten sich die von ihm geführten Bolschewiki mit der Oktoberrevolution an die Macht.
"Freiheit, Brot, Frieden", mit dieser Parole waren Lenin und die Seinen im November 1917 an die Macht gelangt. Entsprechend groß war die Erwartungshaltung der nach Frieden dürstenden Russen. Da zudem die Bolschewisten den Ersten Weltkrieg als einen Krieg zwischen imperialistischen Mächten und damit nicht als ihren ansahen und sie eine "Atempause" zur Etablierung und Konsolidierung ihrer Herrschaft wünschten, waren sie friedenswillig genug, um mit den Mittelmächten am 15. Dezember 1917 einen Waffenstillstand zu schließen.
Eine Woche später begannen in Brest-Litowsk, dem Hauptquartier des Oberbefehlshabers Ost, die im Waffenstillstandsvertrag vorgesehenen Friedensverhandlungen. Die russische Delegation eröffnete die Friedenskonferenz mit dem Vorschlage eines Friedens ohne Annexionen und Kontributionen auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechtes der Völker. Um das internationale Proletariat und die Weltöffentlichkeit auf ihre Seite zu bringen, bestanden die Bolschewiki darauf, daß die Verhandlungen öffentlich geführt wurden.
Die deutsche Delegation befand sich in dem Dilemma, einerseits den Einfluß der Mittelmächte auf russisches Territorium ausdehnen, aber andererseits nicht öffentlich als Imperialisten dastehen zu wollen. Den Lösungsweg, der nun von deutscher Seite beschritten wurde, hatte Theobald v. Bethmann Hollweg bereits ein halbes Jahr zuvor noch als Reichskanzler aufgezeigt. Rußland könnte der Verzicht auf die das Reich interessierenden Provinzen dadurch "schmackhaft" gemacht werden, meinte er, "daß man sie als selbständige Staaten frisieren würde, die eigene innere Verwaltungsautonomie erhalten".
Am 18. Januar 1918 wurden die Russen mit einer Karte konfrontiert, auf der durch eine blaue Linie Polen, Litauen, Kurland sowie Teile von Livland und Estland von Rußland getrennt waren. Auf Wunsch des russischen Delegationsleiters Leo Trotzki wurden daraufhin die Verhandlungen für zehn Tage unterbrochen. Während der Russe die Pause nutzte, um sich neue Instruktionen zu holen, trieben die Mittelmächte ihre Verhandlungen mit der während ihrer Besatzungszeit gebildeten ukrainischen Regierung soweit voran, daß am 9. Februar 1918 ein Separatfrieden mit der Ukraine geschlossen werden konnte. An dem diesem sogenannten Brotfrieden folgenden Tag beendete Trotzki die Verhandlungen mit den Worten "Wir können nicht die Gewalt sanktionieren. Wir gehen aus dem Krieg heraus, sehen uns aber genötigt, auf die Unterzeichnung eines Friedensvertrages zu verzichten."
Auf Drängen der Militärs in der Obersten Heeresleitung und gegen den Rat der Zivilisten im Auswärtigen Amt gab sich das Reich mit Trotzkis völkerrechtlich ungewöhnlicher Lösung "Weder Krieg noch Frieden" nicht zufrieden. Nach dem Ablaufen des Waffenstillstandsabkommens vom 15. Dezember des Vorjahres setzten die Deutschen am 18. Februar 1918 ihren Vormarsch fort, um die Russen zur Rückkehr an den Verhandlungstisch zu zwingen. Keine zwei Wochen später, am 1. März, kehrte die russische Delegation zurück. Drei Tage erhielt sie für die Unterzeichnung eines Diktatfriedens. Zwei Tage später, am 3. März, erfolgte die Unterzeichnung des Friedensvertrages von Brest-Litowsk zwischen Rußland auf der einen Seite sowie dem Deutschen Reich, Österreich-Ungarn, dem Osmanischen Reich und Bulgarien auf der anderen.
Durch diesen Brester Vertrag wurde Rußland auf das vorpretinische Kerngebiet um Moskau zurückgeworfen. Kurland, Litauen und Polen schieden aus dem russischen Staatsverband aus. Vertragsartikel III besagte, daß "Deutschland und Österreich-Ungarn beabsichtigen, das künftige Schicksal dieser Gebiete im Benehmen mit der Bevölkerung zu bestimmen". Zusätzlich zum ursprünglichen Forderungskatalog der Mittelmächte mußte Rußland zugestehen, daß auch Estland und Livland von einer deutschen Polizeimacht besetzt bleiben, "bis dort die Sicherheit durch eigene Landeseinrichtungen gewährleistet und die staatliche Ordnung hergestellt" ist. Auch verpflichtete sich Rußland, die staatliche Unabhängigkeit der Ukraine anzuerkennen und Finnland zu räumen. Die armenischen Gebiete Ardahan, Kars und Batum mußte es an das Ottomanische Reich abtreten. Mit dem Inkrafttreten des Vertrages verlor Rußland mehr als ein Viertel seines europäischen Territoriums, seines gesamten anbaufähigen Landes und seines Eisenbahnnetzes, ein Drittel seiner Textilindustrie sowie nahezu drei Viertel seiner Schwerindustrie und seines Bergbaus.
Aufgrund dieser Härten ist der Frieden von Brest-Litowsk gerne zur Rechtfertigung und Relativierung des Versailler Friedens herangezogen worden. Obwohl es sich in beiden Fällen um Diktate handelte, gibt es doch gravierende Unterschiede. 1918 befand sich das Deutsche Reich im Gegensatz zu den Entente-Mächten im Jahre 1919 in einer Notlage. Es befand sich in einem Kampf von existentieller Bedeutung und sah sich vor dem Problem, die durch die völkerrechtswidrige britische Fernblockade gefährdete Versorgung seiner Bevölkerung mit Lebensmitteln sicherzustellen. Zudem wurde Rußland im Gegensatz zu Deutschland nicht dazu gezwungen, sich selber der Schuld am vorangegangenen Kriege zu bezichtigen. Selbst nach dem Urteil Lenins, also des Führers jenes Landes, dem das Diktat von Brest-Litowsk mit all seinen Härten aufgezwungen wurde, war Versailles "hundertmal erniedrigender, gewaltsamer und räuberischer". D. Beutler
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