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Der Tod des bürgerlichen Europa

 
     
 
Die "historische Epochenscheide" namens Erster Weltkrieg ruhte lange im tiefen Schatten des "Dritten Reiches", obwohl beide Ereignisse eng zusammengehören, denn der Zweite Weltkrieg wiederholte und steigerte Tendenzen der vorherigen Blutorgie. Der Krieg von 1914/18 erhielt die Signatur eines industriell betriebe
nen, ebenso grausigen wie sinnlosen Massensterbens. In den Schützengräben an der Somme und im Osten starb das alte "bürgerliche" Europa. Diese "Urkatastrophe" erschütterte alle Gesellschaften und gebar den Nährboden für totalitäre Strömungen. Europas Staatensystem zerfiel, der Welthandel kollabierte, und Deutschland erlebte nach 1918 die "endgültige Dekomposition des Kaiserreichs".

Wolfgang J. Mommsen, der leider vor wenigen Wochen verstarb, war einer der besten Kenner dieser komplexen Materie. In "Der Erste Weltkrieg - Anfang vom Ende des bürgerlichen Zeitalters" analysiert er in elf Aufsätzen vor allem politische und mentalitätsgeschichtliche Aspekte der Weltkriegsära. Die Lektüre dieses Buches setzt umfangreiche Kenntnisse voraus; der Autor referiert keine Tatsachen, sondern er verschränkt Faktizität und Interpretation, worin gleichsam Mommsens Gütesiegel besteht.

Nationalistische und imperialistische Begierden hätten das Debakel vom August 1914 "unvermeidbar" gemacht. Viele Führungsschichten europäischer Länder neigten zum "Präventivkrieg", der, oft als notwendige "Reinigung" empfunden, nicht selten euphorisch begrüßt wurde, gerade auch von Intellektuellen, die glaubten, daß ein Krieg die breite Masse stärker mit der Kultur verknüpfe. Offen bleibt allerdings die Frage, ob die politisch-diplomatische Schuld am Ausbruch des Krieges, wie Mommsen offenbar annimmt, gleichmäßig verteilt war.

Deutschland habe den Krieg nicht "planmäßig" vorbereitet, sondern sei dem Zarenreich, das massiv aufrüstete, präventiv zuvorgekommen. Irrationale Ängste deutscher Militärs und Staatsmänner seien dabei ins Gewicht gefallen. Der vernunftwidrigen "Mentalität europäischer Führungsschichten" gibt Mommsen die Hauptverantwortung am Krieg.

In der Julikrise von 1914 verfolgte die Reichsleitung laut Mommsen eine Art Doppelstrategie, die darin bestand, daß man entweder die Entente diplomatisch zerbrechen oder Krieg gegen Frankreich und Rußland führen wollte.

Generell habe fatalistische Kriegserwartung geherrscht; nur eine "kleine Minderheit" habe gewaltsame Lösungen prinzipiell abgelehnt, die das Bürgertum, mit gewissem Abstand auch große Teile der Arbeiterschaft, befürwortet hätten.

Mommsen beschränkt seine Darstellung der Kriegsziele auf Deutschland. Reichsleitung und Wirtschaftsgruppen hätten gefordert, das mittlere und südöstliche Europa direkt oder indirekt zu dominieren. Gleichwohl hätten ökonomische Notwendigkeiten eher gegen dieses Konzept gesprochen, denn die deutsche Wirtschaft hätte global agiert. Entlang der Ostgrenze sollte eine ethnische "Flurbereinigung" stattfinden.

Spätestens seit dem Hindenburg-Programm von 1916 sei fast die gesamte Bevölkerung für Kriegszwecke mobilisiert worden. Beide Kirchen, vor allem die protestantische, hätten im Krieg eine "Offenbarung Gottes" gesehen und seien bedingungslos der Obrigkeit gefolgt.

Auch die wichtige literarische Verarbeitung des Kriegserlebnisses vergißt Mommsen nicht. Die Behauptung damaliger Schriftsteller, daß der Krieg einen "stahlharten Menschentyp" hervorgebracht habe, entlarvt er als nachträgliche Idealisierung. Die meisten Soldaten empfanden Todesangst und sehnten den Frieden herbei. In der Realität des Krieges obwalteten das "Leiden und Sterben der Soldaten, zumeist unter fürchterlichen Umständen, denen jegliche Reste menschlicher Würde abging". Auch erlebte jeder Soldat "seinen eigenen Krieg".

Abhandlungen über die Völkerbundpläne des amerikanischen Präsidenten Wilson und die Folgen des Versailler Friedensvertrags, den Deutschland nicht rational verarbeitet habe, beschließen das hervorragende Buch. Rolf Helfert

Wolfgang J. Mommsen: "Der Erste Weltkrieg. Anfang vom Ende des bürgerlichen Zeitalters", S. Fischer Verlag, Frankfurt Main 2004, 220 Seiten, 13,90 Euro

 
     
     
 
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