|
Es ist überfällig und hoch an der Zeit, die Frage nach der Identität unseres Volkes zu stellen. Wer sind wir? Wie haben wir zusammengefunden im heutigen Deutschland? Wie hat unser Land sich verändert durch 12,5 Millionen hinzugekommene Menschen? Man kann mit Sicherheit feststellen, daß seit Mitte des 20. Jahrhunderts nichts mehr ist, wie es einmal war. Zwölf Jahre Nationalsozialismus haben uns weitgehend unserer jüdische n Mitbürger beraubt, und Flucht und Vertreibung haben zu einer nachhaltigen demographischen Veränderung des heutigen Deutschland geführt. Niedergeschlagen hat sich das selbst in einem Standardwerk der deutschen Nachkriegsgeschichte wie "Geschichte der Bundesrepublik Deutschland" nicht. Der 1983 von Theodor Eschenburg verfaßte Band über die Jahre 1945 bis 1949 enthält zusammenaddiert bei 627 Seiten nur drei über das ganze Buch verstreute Seiten zur Vertreibung.
Nur wenige begriffen, was die Vertreibung und die Aufnahme Millionen entwurzelter Menschen in West- und dem damaligen Mitteldeutschland bedeutete. Eine Ausnahme war der Soziologe Eugen Lemberg. Er beschrieb schon 1950 den von Not und Mangel bestimmten und oft auch konfliktreichen Prozeß der Integration wissenschaftlich als die "Entstehung eines neuen Volkes aus Binnendeutschen und Ostvertriebenen".
Die schönsten Seiten unseres Vaterlandes sind in seinem kulturellen Reichtum mit vielen unterschiedlichen Facetten zu finden. In schöpferischem Geist erwuchsen über die Jahrhunderte Musik, Literatur, Philosophie, Baukunst und Malerei. Was wären wir ohne die philosophischen Menschheitsbilder der Ostdeutschland Kant und Herder, des Danzigers Schopenhauer und des Breslauers Schleiermacher? Sie sind uns so nötig wie die Dichtungen Franz Werfels, Rainer Maria Rilkes oder Marie von Ebner Eschenbachs aus dem Böhmisch-Mährischen, Werner Bergengruens aus dem Baltikum oder Gerhart Hauptmanns aus Schlesien.
Unser kulturelles Erbe ist voller Substanz und tiefer Kraft. Es hat über eine unmenschliche Mauer und Grenze, trotz Stacheldraht, Tellerminen und Schießbefehl, trotz unterschiedlicher Gesellschaftssysteme, unsere gemein- same nationale Identität getragen. Dieses Erbe hat uns den Weg aus der Isolation und dem Abseits nach 1945 erleichtert. Mit weitem Herzen und offenen Sinnen müssen wir erkennen, aus welchen Wurzeln sich dieses Erbe speist. "Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen", läßt Goethe seinen Faust deklamieren. Dazu gehört unverzichtbar das kulturelle Erbe der Vertriebenen.
Den grausamen Kriegs- und Nachkriegsverlusten Deutschlands stehen unschätzbare Gewinne der Aufnahmegesellschaft gegenüber, auch wenn diese das zunächst überhaupt nicht so gesehen hat: Das "unsichtbare Fluchtgepäck" der Vertriebenen, ihr technisches, handwerkliches oder akademisches Know-how, ihre 700-, 800jährige kulturelle Erfahrung im Neben- und Miteinander mit ihren slawischen, ungarischen, baltischen oder rumänischen Nachbarn hat Deutschland nachhaltig geprägt - Erfahrungen, die in keinem anderen westlichen Industriestaat so verdichtet sind wie in Deutschland! Die Heimatvertriebenen haben interkulturelle Kompetenz mitgebracht. Und sie haben als unsichtbares Fluchtgepäck ihre kulturelle Identität eingebracht. Das zentrale Anliegen der allermeisten Vertriebenen ist neben dem lebendigen Kontakt zur Heimat die Bewahrung des leidvollen Schicksals der deutschen Heimatvertriebenen und ihres kulturellen Erbes im kollektiven Gedächtnis unseres eigenen Volkes. Beides ist Teil gesamtdeutscher Geschichte und Kultur. Es ist verwobener Teil unserer deutschen Identität. Darum geht es alle an. Die einen, weil sie Opfer waren, die anderen, weil sie das Glück hatten, keine Vertreibungsopfer gewesen zu sein.
Meinungsaustausch unter Gastrednern: Angela Merkel und Otto Schily mit Erika Steinbach |
|