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Die Meininger

 
     
 
Wenn gegen Ende des 19. Jahrhunderts von den "Meiningern" gesprochen wurde, war keineswegs von der Stadtbevölkerung die Rede, sondern von jenem Schauspielensemble, das durch seinen Gründer, Herzog Georg II. von Sachsen-Meiningen, weltweit berühmt wurde. Dieser als "Theaterherzog" in die Geschichte eingegangene Fürst hatte 1867 begonnen, für sein Hoftheater eine Schauspieltruppe zusammenzustellen, in der sich jeder einzelne Akteur dem Prinzip "Glanz durch Gesamtleistung" unterzuordnen hatte.

Am 1. Mai 1874 gab die Truppe in Berlin ihr erstes Gastspiel. Das verriet insofern Todesmut, weil die Berliner als "Reichshauptstädter" davon überzeugt waren, nur in ihrer Metropole könnten einzigartig
e intellektuelle Leistungen entstehen. Was von auswärts, aus deutschen Provinzen kam, verdiente herablassendes Mitleid. Doch an diesem 1. Mai geschah in der Kaiserresidenz Unerhörtes. Ein kritiksüchtiges Publikum sah eine Ermordung, die Schauer über den Rücken jagte: "Wenn Casca den Streich auf Cäsar führt, stößt das um die Cura versammelte Volk einen herzerschütternden Schrei aus; eine Totenstille tritt ein: die Mörder, die Senatoren, das Volk stehen einen Augenblick wie gebannt und erstarrt vor der Leiche des Gewaltigen, dann bricht ein Sturm aus, dessen Bewegung man gesehen haben muß, dessen Brausen man gehört haben muß", schrieb der Berliner Dramaturg Karl Frenzel, der gekommen war, um die Aufführung der "Meininger" in Grund und Boden zu verdammen. Er wurde begeisterter Anhänger der Truppe.

Monatelang strömte das Publikum ins Friedrich-Wilhelmstädtische Schauspiel, wo die Thüringer gastierten. Man mußte erlebt haben, wie Ludwig Barnay als Marc Anton das Testament Cäsars verliest, Aufgebrachte die Bahre mit dem Leichnam ergreifen und der Poet Cinna im Getümmel getötet wird. "Man glaubt den Anfängen einer Revolution beizuwohnen", schrieb der Kritiker.

Diese Berliner Premiere war der Beginn von 2591 Gastspielvorstellungen der "Meininger" durch europäische Kulturzentren: von Budapest bis London, von Antwerpen bis St. Petersburg und Kiew. Die Gesamteinnahmen betrugen über sechs Millionen Mark, für damalige Zeit eine ungeheuere Summe. Theatergeschichtler haben darauf hingewiesen, daß der epochale Erfolg der "Meininger" auf den bis dahin miserablen Inszenierungen der Klassiker basierte. Der idealistische Stil des Goetheschen Theaters in Weimar war zur gefühlsentleerten Konvention herabgesunken. Die Darsteller, in Stellung und Gestik erstarrt, glichen musealen Gipsfiguren. Kulissen, aus Schlamperei falsch gewählt, verursachten Gelächter. Am schlimmsten für das Publikum war die Langweiligkeit der Aufführungen.

Die "Meininger" schufen den Durchbruch zum dynamischen, modernen Regietheater. Herzog Georg II. hatte sich gründlich für die Theaterreform vorbereitet, hatte Kunstgeschichte, Altertumskunde studiert und in London, Paris bedeutende Aufführungen gesehen. Der liberale Theaterenthusiast erwies sich nach seinem Regierungsantritt als Theaterdespot. Er löste die Hofoper auf, um genügend Geld für das Schauspiel zu haben. Schon als Erbprinz hatte er geäußert: "Mein Ingrimm ist und wird gerichtet sein, jetzt und solange ich lebe, gegen alles Frivole in der Kunst." Das nahmen die Komödianten nicht ernst, aber weitere Bekundungen ließen aufhorchen: "Die Künstler sind nichts, sondern nur die Kunst hat Wert, das heißt nur der Künstler verdient Unterstützung, der die Kunst als solche fördert zum Frommen der Menschheit."

Erst nach sieben Jahren intensiver Arbeit, nachdem "Ensemblegeist" zum Begriff geworden war, traute er seiner Truppe die Gastspielreisen zu. Bis dahin aber hatten die Schauspieler unter den Anforderungen gestöhnt. Ihrer Meinung nach wurde zu lange geprobt; jede Bewegung, die geringste Geste, Körperhaltung mußte mit dem Text in Einklang stehen. Witzig, doch scharf korrigierte der Herzog einen Heldendarsteller: "Die Schillerschen Verse haben Sie recht gut gesprochen und der Kopf hat auch Anteil an dem Inhalt der Verse genommen, aber ihre Beine gehörten während der Erzählung einem Dienstmann vor dem Hotel Sächsischer Hof, den die Sache weiter nichts angeht."

Jedes Schauspiel wurde in historisch originaler Bühnendekoration sowie ebensolcher Kostüme zur Aufführung gebracht. Ensemblemitglieder, die etwas beschädigten, mußten die Reparatur bezahlen. Die "Meininger" wurden auch Wegbereiter der raffinierten "Hörkulisse". In Grillparzers "Ahnfrau" erschraken die Zuschauer ob des heulenden Sturms, der knarrenden Wetterfahne und der lautlos herumgeisternden "Ahnfrau".

In Personalunion als Intendant, Dramaturg, Regisseur, Bühnenbildner hätte der Herzog die Erneuerung des Theaters nie schaffen können. Zwei Menschen standen ihm zur Seite. Ludwig Chronegk war für die Organisation aller Gastspielreisen und für die Inszenierung der Volksszenen und Massenaufläufe zuständig, die es in dieser Perfektion noch nicht gegeben hatte und die noch viel später, in Sergej Eisensteins Film "Panzerkreuzer Potemkin", während der unvergeßlichen Treppenszene im Hafen von Odessa, ihr Echo fanden.

Wo Thalia wirkt, bleibt Eros nicht fern. Die beste Schauspielerin der "Meininger", Ellen Franz, wurde die dritte Ehefrau des zweimal verwitweten Herzogs. Sie zeichnete für die Rollenbesetzung und die Schulung der Nachwuchskräfte verantwortlich. Übrigens war sie bei der Eheschließung zur Freifrau von Heldburg geadelt worden. Im Meininger Barockschloß Elisabethenburg ist das gemeinsame Geschäftszimmer Georgs II. und seiner Frau zu besichtigen. Es ist im Neo-Renaissancestil eingerichtet. Aus dunklem Holz sind die Wandtäfelungen und die beiden Arbeitstische.

Der Theatergeist der "Meininger" übertrug sich international auf hervorragende Bühnenkünstler. Konstantin Stanislavykij (1863 bis 1938) berichtet von einem Gastspiel in Moskau. Ein Darsteller hatte sich auf der Probe verspätet. Regisseur Chronegk erstarrte. Dann bestimmte er: "Die Rolle des zu spät gekommenen Schauspielers X wird für die Dauer des Moskauer Gastspiels der Schauspieler Y übernehmen. Den Schauspieler X jedoch beordere ich in die Volksszenen, wo er die letzte Gruppe der Statisten leiten wird." Stanislavskij gesteht, daß ihm die Kaltblütigkeit Chronegks imponierte; er selbst wurde zum Regiedespoten, und ihn wiederum nahm sich eine ganze russische Regisseursgeneration zum Vorbild. Der berühmt gewordene Stanislavskij dankte ausdrücklich den "Meiningern" dafür, daß ihnen "die Herausarbeitung des geistigen Wesens eines Werkes" beispielgebend gelungen war. – In diesen Tagen erregen die "Meininger" mit einer Wagner-Inszenierung Aufsehen: an vier Abenden hintereinander spielt man die Opern-Tetralogie "Der Ring des Nibelungen" (nächster Termin: 5.–8. Juli).

Steht man heute vor dem Meininger Theater, erfaßt der Blick unausweichlich die sechs korinthischen Säulen, die den Giebel tragen. Hinter den Säulen liegen die fünf Eingangsportale. Innen blendet die im Empirestil gestaltete Vorhalle mit ihren rötlichen Marmorpfeilern. Über dem pompös-eleganten Zuschauerraum wölbt sich ein Kuppelrund mit filigranem Dekor. Dieser im Rekordtempo errichtete klassizistische Theatertempel wurde 1909 eröffnet. Ein Jahr zuvor war das alte Hoftheater von 1831 abgebrannt.

Um das Theater erstreckt sich ein Park. Zu diesem "Englischen Garten" oder "Goethepark" bilden künstliche Ruinen den Eingang. Fontänen sprühen, Wasserläufe glitzern. Die ganze Anlage dient der Erinnerung an Künstler, die in und für Meiningen tätig waren. Unter den Schatten weit ausladender Baumwipfel stehen die Denkmäler der Komponisten Johannes Brahms, Max Reger. Die Schriftsteller sind mit Rudolf Baumbach ("Lieder eines fahrenden Gesellen"), Otto Ludwig ("Zwischen Himmel und Erde") und mit Jean Paul vertreten, der hier seinen Roman "Titan" vollendete. Der "Märchenbrunnen" ist dem Dichter Ludwig Bechstein gewidmet. Aus Blumenwiesen erhebt sich die herzogliche Gruftkapelle.

 
     
     
 
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