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EU-Kommissar Verheugen macht den Europäern und insbesondere den Deutschen Mut. Es sei alles gar nicht so schlimm, die EU sei gut vorbereitet auf die Erweiterung. Auch für die Türken hat der Kommissar ein frisch-ermutigendes Wort auf den Lippen. Alles wird gut, lautet die Botschaft aus Brüssel.
Man würde es dem Technokraten gerne wünschen. Aber die Verhältnisse, sie sind nicht so, wie man sie durch die Brüsseler Brille sieht. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Zum einen müssen die Iren am 19. Oktober den Vertrag von Nizza gutheißen, was keineswegs sicher ist. Davon hängt das Schicksal der Erweiterung ab, und auch wenn es politisch nicht korrekt sein mag, die Frage muß erlaubt sein, ob die EU für eine Erweiterung wirklich reif ist, nur weil ein paar Kommissare sich das auf ihrem Brüsseler Reißbrett so ausgedacht haben.
Zum zweiten ist die Korruption in mindestens sechs der zehn Beitrittsländer so auffällig, daß selbst die Kommission sich genötigt sieht, darauf hinzuweisen. Dabei geht sie ansonsten recht großzügig mit diesem Thema um. Wie dieses Problem in den Griff zu bekommen ist, bleibt ein Rätsel. Denn Europa ist ein schon gar nicht mehr geheimer Tip, wenn es darum geht, Subventionen zu erschleichen. Bezahlen tun immer die anderen und nicht selten sind diese anderen die deutschen Nettozahler.
Zum dritten ist der Agrarstreit noch offen. Eine Kompromißlinie zwischen Paris und Berlin zeichnet sich nicht ab. Ohne die Agrarsubventionen aber werden sich manche neue Mitglieder fragen, ob der Weg in das Brüsseler Europa sich noch lohnt. In Polen bröckelt bereits die Zustimmung. Und ohne Reform dieses Bereichs, der fast die Hälfte des EU-Budgets ausmacht, fragt sich mancher Nicht-Technokrat, woher die mindestens 40 Milliarden Euro herkommen sollen, die das ganze Erweiterungsunternehmen pro Jahr kosten soll. Die Kassenpegel liegen jetzt schon bedenklich tief, und angesichts der Kassenlage in den einzelnen Mitgliedsländern dürfte sich eine Frage nach dem Motto "Steuern für Danzig" von selbst beantworten.
Schließlich, viertens, zeigt die Türkei-Frage, wie leichtfertig die Kommissare über Kultur und Geschichte Europas hinwegschwadronieren. Auf dem Gipfel in Kopenhagen wolle man der Türkei ein ermutigendes Zeichen geben. Das einzig richtige Zeichen wäre das ehrliche Wort: Europa hört am Bosporus auf, laßt uns andere Formen der Zusammenarbeit finden. Viele rotgrüne Ideologen aber finden es chic, Europa in einem multikulturellen Brei aufgehen zu lassen. Zwei Drittel der Bevölkerung in Deutschland - in anderen Ländern dürften es noch mehr sein - sind da realistischer. Freizügigkeit bis nach Anatolien würde das Gesicht Europas grundlegend verändern. Die politischen Schwerpunkte in Europa würden sich verschieben, wenn in zwanzig Jahren hundert Millionen Türken in der EU nur noch sechzig Millionen Deutsche oder knapp fünfzig Millionen Briten gegenüberstehen, wobei die Türken die weitaus jüngere Bevölkerung hätten. Und wer weiß, wie lange Ankara den auch in der Türkei wachsenden Islamismus in Schach halten kann. Der Islam aber hat ein völlig anderes Rechts-und Demokratieverständis als der von der hellenistisch-christlichen Philosophie und dem römischen Rechtsdenken geprägte Kulturraum westlich von Istanbul. Im Europa-Parlament hat man schon früh darauf hingewiesen und sich auch deshalb gegen einen Kandidatenstatus für die Türkei ausgesprochen.
Die Türken wiederum pochen auf das Versprechen aus Brüssel, bald Beitrittsverhandlungen aufzunehmen. Sie sehen vielleicht langfristig die Möglichkeit, Europa zu dominieren, sicher aber den kurzen Weg zu den Fleischtöpfen in Brüssel. Auf die wollen sie nicht verzichten und der Preis für das Hinauszögern wird steigen. Denn mit der Androhung, den Nordteil Zyperns zu annektieren und somit das griechische Veto zu provozieren, haben sie einen Hebel in der Hand, die gesamte Erweiterung zu blockieren. Was die UNO in dreißig Jahren nicht geschafft hat, nämlich die Zypern-Frage zu lösen, dürfte Brüssel in drei Monaten gewiß nicht gelingen.
Aber all das ficht die Kommissare im Brüsseler Luftschloss nicht an. Sie werden die Wirklichkeit erst dann wahrnehmen, wenn die Erweiterung verschoben wird. Entweder jetzt, am 19. Oktober, oder auf dem Dezember-Gipfel in Kopenhagen. Europa ist schlicht noch nicht reif dafü |
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