|
Kerstin B. aus Neubrandenburg hat vor drei Jahren eine Lehre in München begonnen. In ihrer Heimatstadt fand sie keinen Ausbildungsplatz. Das Arbeitsamt förderte ihren Wegzug mit einer Prämie. Als sie jetzt nach Hause zurückkehrte, um ihren 20. Geburtstag zu feiern, suchte sie vergeblich nach ihren Freundinnen: Sie sind alle im Westen. Alexander M. aus Potsdam absolvierte im vergangenen Jahr sein Studium an der Technischen Fachhochschule in Berlin. Seitdem ist er arbeitslos, ebenso wie fast alle seiner Kommilitonen. Nur zwei hatten das Glück, eine Stelle zu finden - in Bayern und in Hessen. Im Osten bietet sich für sie auf absehbare Zeit keine Chance.
Dies sind keine Ausnahmen oder Extremfälle, sondern typische Beispiele für die momentane Situation in den neuen Ländern, wo die Wirtschaft stagniert, die Arbeitslosigkeit Rekordhöhen erreicht und Berufs-einsteiger kaum Chancen haben, eine Stelle zu bekommen. Die Folge ist, sie wandern ab, gehen in den Westen, wo es Arbeit gibt und es sich noch lohnt, eine Familie zu gründen und eine Existenz aufzubauen. Seit dem Fall der Mauer haben mehr als 3,3 Millionen Menschen dem Osten den Rücken gekehrt. Viele von ihnen waren so alt wie Kerstin und Alexander, zwei Drittel unter 30 Jahren, arbeitsfähig und leistungswillig. Durch ihren Wegzug veränderte sich die Altersstruktur der Bevölkerung östlich der Elbe dramatisch: Auf 1.000 Erwerbstätige kommen 489 Personen, die 60 Jahre oder älter sind, aber nur 347 im Alter von unter 20 Jahren. Auffallend hoch ist der Anteil junger Frauen an den Übersiedlern. Bei den 18- bis 25jährigen liegt er bei 58 Prozent, wodurch nicht nur die Kinderzahl im Osten weiter zurück-geht, sondern es zu einem in Europa bisher einmaligen "Männerüberschuß" kommt.
Natürlich ziehen auch Menschen in die neuen Länder, von Buxtehude nach Rostock oder von Gelsenkirchen nach Leipzig. Seit 1990 summiert sich ihre Zahl auf 1,7 Millionen. Unter ihnen sind viele "Rückkehrer", aber auch viele Rentner und sozial Schwache. Insgesamt ist ihre Zahl aber geringer, so daß für die neuen Länder ein negativer Wanderungssaldo bleibt. Damit setzt sich ein Trend fort, der bereits Jahrzehnte früher eingesetzt hat und der durch die Mauer 1961 bis 1989 lediglich unterbrochen worden war: die Wanderung großer Teile der Bevölkerung in die Metropolregionen Westdeutschlands. Hinzu kommt, daß sich die Geburtenrate in den neuen Ländern nach 1990 halbiert hat, auf nur noch 0,8 Kinder je Frau, der Nachwuchs also fehlt. Heute liegt die Geburtenziffer im Durchschnitt zwar wieder bei 1,2 Kindern. Aber das ist zu wenig, so daß die Bevölkerung weiter schrumpft, von einst 16,6 Millionen (1989) auf 14,7 Millionen (2003). Prognosen zufolge werden es künftig noch viel weniger sein, im Jahr 2050 werden nur noch elf Millionen Menschen in den neuen Bundesländern leben.
Überall wird über den demographischen Wandel und die Probleme, die sich daraus für den Sozialstaat und den Wirtschaftsstandort ergeben, diskutiert. Tatsächlich vollzieht sich dieser Wandel regional aber sehr unterschiedlich. So hat der Osten seit 1989 schon mehr als 10 Prozent seiner Bevölkerung verloren und wird in den nächsten Jahrzehnten weitere 30 Prozent verlieren, während Westdeutschland durch die Zuwanderung aus den neuen Ländern und dem Ausland demographisch noch wächst. Auch fehlt es hier vorerst nicht an jungen Erwerbspersonen, die für Wirtschaftswachstum sorgen - und für Nachwuchs. Mit einem Rückgang der Bevölkerung und einer spürbaren Alterung muß im Westen erst nach 2030 gerechnet werden, in den neuen Ländern ist dies heute schon Realität. Fazit ist: Der demographische Wandel findet überall in der Bundesrepublik statt, die Katastrophe aber nur im Osten. Auf Grund der spezifischen Interessenlage und dem Erfolgsdruck in Sachen "Aufbau Ost" werden die damit verbundenen Probleme durch die Bundesregierung jedoch heruntergespielt. Tatsächlich aber sind sie bedrohlich. Ganze Regionen wie Nordthüringen, Ost-Prignitz, die Altmark, die Uckermark, Vorpommern und die Lausitz sind der Verödung preisgegeben. Städte wie Halle, Magdeburg, Frankfurt / Oder, Görlitz, Cottbus, Neubrandenburg, Gera und Dessau verlieren innerhalb weniger Jahrzehnte bis zur Hälfte ihrer Einwohner. Es ist kaum vorstellbar, was es für eine Stadt mit früher mehr als 300.000 Einwohnern wie Halle oder Magdeburg bedeutet, innerhalb von zwei Generationen auf 150.000 herunter zu gehen. Schon stehen Schulen und Kindergärten leer, Stadtviertel werden im Rahmen eines Rückbau-Programms abgerissen, die öffentliche Infrastruktur (Wasser, Strom, Wärme, Verkehr, Handel, Kultur) ist überdimensioniert und folglich zu teuer, was die Städte in die Verschuldung treibt. Diese wird für sie zur Falle, da die Einnahmen mit der Einwohnerzahl rapide zurückgehen, die Ausgaben aber steigen. Ökonomen sprechen hier von einer Ausgabenremanenz, die zur Folge hat, daß sich die Lasten und Kosten, zum Beispiel für Strom und Wasser, Bus und Bahn, aber auch für den Schuldendienst, auf immer weniger Menschen, die zudem noch immer weniger zahlungsfähig sind, verteilt. Dies sind - neben fehlenden Arbeitsplätzen und niedrigen Einkommen - weitere Motive, dem Osten den Rücken zu kehren. So werden die Folgen der Migration zu neuen Ursachen, ohne daß eine Umkehr der Tendenz absehbar wäre. Eher muß mit einer Beschleunigung gerechnet werden, mit allen Konsequenzen für Wirtschaft und Politik. Die demographisch bedingte Zunahme der Ungleichverteilung der ökonomischen Potentiale führt schließlich zur Spaltung des Landes in einen prosperierenden Westen und einen verödenden Osten, wofür es schon heute unübersehbare Anzeichen gibt. Die Politik wäre gut beraten, hierauf zu reagieren und nicht zu warten, bis die neuen Bundesländer vollends zum Exempel geworden sind für Politikversagen großen Stils. n
Dr. Ulrich Busch ist Privatdozent für Volkswirtschaftslehre an der Humboldt-Universität zu Berlin. |
|