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Es ist soweit, Europa bekommt definitiv eine Verfassung. Ob es auch seine Verfassung wird, ist angesichts geringen öffentlichen Interesses sowie mangelhafter Legitimation durch den Souverän jeder Demokratie, nämlich das jeweilige Volk, fraglich. Ein Blick auf die neuen Spielregeln läßt neben Verfahrensfragen auch erste Konturen einer Machtverschiebung erkennen. Was als Ordnungsgrundlage einer erweiterten Gemeinschaft daherkommt, könnte Nationalstaaten als handlungsfähige Entscheidungträger aushebeln und der Eurokratie neue Gefilde erschließen. Nach der Einigung über letzte strittige Fragen wird die EU den Parlamenten der Staaten ihre Eigendemontage zur Abstimmung überlassen. Kommt das Werk durch die parlamentarischen Kammern der Signatarstaaten, wird sich an den Entscheidungsprozessen in Europa einiges ändern. Nicht mehr die Einstimmigkeit aller Staaten, sondern eine qualifizierte Mehrheit gibt den Ausschlag. Das noch vorhandene nationale Vetorecht wird aufgehoben. Für ein neues Gesetz müssen künftig 55 Prozent der Staaten stimmen, die zugleich mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren. Auf dem Konvent in Nizza 2000 waren noch geringere zulässige Mindestmehrheiten ("Quoren") von 50 Prozent im Gespräch. Es müssen nach der neuen Verfassung mindestens 15 Staaten sein, die zustimmen. Die Stimme großer Staaten soll im Ausgleich durch das Prinzip der "doppelten Mehrheit" aufgewertet werden, doch werden auch sie an die neue Regel gebunden, daß mindestens vier Staaten ihr Veto einlegen müssen, um ein Gesetzesvorhaben künftig noch stoppen zu können. Dem Europäischen Rat wird sogar die Möglichkeit zugebilligt, ganz zum Mehrheitsverfahren ohne jedes Vetorecht durch einfachen Beschluß überzugehen. Die Gesetze, also EU-Entscheidungen, werden zudem verbindlicher, sind nicht mehr Richtlinien, sondern Rahmengesetz, das heißt Korsett für die Staaten. Ein Konvent ersetzt nun die Regierungskonferenz. Der feine Unterschied: Ein Konvent setzt sich nicht aus nationalstaatlich Vertretern zusammen, sondern aus "Experten". Die errechneten bereits, daß das EU-Parlament bald in über 90 Prozent aller Gesetzgebungsverfahren gleichberechtigt mit den Regierungen der Staaten entscheiden darf. Die EU-Institutionen werden also auf-, die Staaten Europas abgewertet.
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