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Seit mehr als zwei Jahrzehnten praktiziert China die sogenannte Ein-Kind-Politik. Nun hat das kommunistische Regime ein Gesetz verabschiedet, das diese Praxis auch rechtlich fundieren und regeln soll. Warum?
Es gebe Grauzonen, heißt es in der Staatspresse. Aber die gab es immer. Man wolle eine übereifrige Umsetzung der Regierungsanordnung unterbinden. Da fängt es an, interessant zu werden. Die Staatsanwaltschaft solle künftig sogar Kontrollbeamte verfolgen, die Neugeborene töten, um die Geburtenquote ihres Bezirks einzuhalten. Ist die Quote, die Statistik nicht mehr ausschlaggebend?
Es geht weiter mit den überraschenden Begründungen: Die vorgeburtliche Geschlechtsbestimmung durch Ultraschalluntersuchungen sowie die Abtreibung weiblicher Embryonen solle verhindert werden, und Frauen sollten auch in späteren Jahren noch Kinder bekommen.
Offensichtlich ist man in der Parteizentrale in Peking auf die verheerenden Folgen dieser Politik aufmerksam geworden. Der Überhang an männlichen Geburten führt langfristig zu sozialen Verwerfungen. Konkret: Vergewaltigungen und Ehescheidungen nehmen zu, auch das Frustpotential wächst, insgesamt droht eine sozio-emotionale Destabilisierung. Das kann auch politisch zu unkalkulierbaren Ausbrüchen führen. In dieselbe Richtung führen die millionenfachen Abtreibungen, das Post-Abortion-Syndrom reißt tiefe Wunden in die Mutterseelen, auch im kommunistischen China.
Hinzu kommt die massenhafte Verwöhnung des männlichen Einzelkindes. China ist schon heute ein Land voller Kronprinzen. Eine Generation wächst heran, die bedient werden will und den Dienst an den anderen kaum kennt. Eine Generation von Individualisten im Kommunismus! Auf Dauer kann das nicht gutgehen. Es ist schon schwierig im liberalen Westen, mit vielen Egozentrikern zurechtzukommen. Aber in einer Diktatur, die das Kollektiv zum Maßstab des Menschlichen erhebt, müssen dieses Ich-Denken und das System wie zwei Züge aufeinander zurasen.
Das neue Gesetz soll Abhilfe schaffen. Wahrscheinlich denken die Parteifunktionäre in Peking jetzt, da das Bevölkerungswachstum gestoppt ist, vorwiegend noch an den Abbau des männlichen Überhangs, vermutlich auch an die Alterung der Bevölkerung und die Folgen für die sozialen Sicherungssysteme. Aber die sozialen und emotionalen Folgen dürften sie bald stärker beschäftigen. Und hier fängt es an, auch für den Westen interessant zu werden. Denn diese Folgen sind bereits auch in den Industrieländern spürbar.
Wo Kinder fehlen, nistet sich soziale Kälte ein, mangelt es an Selbstlosigkeit, greift berechnendes Denken um sich. Das ist keine Frage der Zahl, sondern der Qualität der Beziehungen. Ein-Kind-Familien können in diesem Sinn mehr Liebe ausstrahlen als große Sippen. Es kommt auf den geistigen Hintergrund an, auf die Quelle der Menschlichkeit. In kommunistischen oder kapitalistischen Systemen verkörpern Kinder per se noch ein Stück Transzendenz, sie symbolisieren Glück und Liebe. Kinder sind sichtbar gewordene Liebe, schrieb der deutsche Frühromantiker Novalis. Wo sie und die Liebe fehlen, helfen auch keine Gesetze mehr.
Die Regel und die Ausnahme: Dieses Paar, das mit seiner Tochter durch Peking spaziert, entspricht zwar dem „Normalfall“ der Ein-Kind-Familie. Zugleich zeigt es den Ausnahmefall - die meisten chinesischen Ehepaare verwirklichen sich dank vorgeburtlicher Ultraschalldiagnose den Wunsch nach männlichem Nachwuchs. |
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