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Englischer Weizen in Ostdeutschland

 
     
 
Groß war die Aufregung in der Bevölkerung im samländischen Kraam am ersten Sonntag im April. Was bisher nur als Gerücht gehandelt wurde, bestätigte sich jetzt in einer Bürgerversammlung. Ein namentlich bislang nicht bekannter englischer Agrarkonzern möchte das gesamte Ackerland rund um Kraam, insgesamt 2000 Hektar, von den dortigen Kleinbauern übernehmen.

In einer Bürgerversammlung schilderte der Vertreter des Konzerns
, Philip Brandley, die Pläne der Engländer. Man wolle noch in diesem Jahr das gesamte Acker- und Weideland von den dortigen Kleinbauern, die durchschnittlich über eine Fläche von fünf Hektar verfügen, für die Dauer von 49 Jahren mit einer Option auf weitere 20 Jahre pachten. Als Pachtsumme, die laut Auskunft von Brandley nicht verhandelbar sei, wollen sie in den ersten fünf Jahren pro Hektar 150 Kilogramm Weizen, vom sechsten bis 15. Jahr 200 Kilogramm Weizen, vom 16. bis 25. Jahr 250 Kilogramm Weizen und danach 300 Kilogramm Weizen oder den jeweiligen Gegenwert in US-Dollar zahlen. Sollten die Gebietsbehörden oder Moskau beschließen, daß Ausländer auch Land kaufen können, so wäre die englische Firma dann auch sofort bereit, die gesamte Fläche käuflich zu erwerben.

Doch stellte Brandley im Auftrag seiner Firma auch eine deutliche Bedingung an die Bewohner von Kraam. Die Engländer seien nur dann bereit, dieses Land zu pachten, wenn sie die gesamten 2000 Hektar bekommen, und die jetzigen Landbesitzer müßten sich bis Mitte April entschieden haben, ob sie das nicht veränderbare Angebot der Engländer annehmen oder nicht. Brandley machte unmißverständlich deutlich, daß seine Firma seit fast sieben Jahren das gesamte Gebiet Nord-Ostdeutschlands sondiert und Kraam erste Priorität hat, aber durchaus noch Alternativen im Gebiet vorhanden sind.

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß es die Engländer, die sich bisher lange Zeit gelassen haben und es nun sehr eilig haben, ihren Übernahmecoup wirklich sorgfältig und von langer Hand vorbereitet haben. Wie Brandley dem in einem kurzen Gespräch mitteilte, wolle man unbedingt ins nördliche Ostdeutschland, um zu einem späteren Zeitpunkt Zutritt zum russischen Markt zu bekommen. Auf die Frage, warum unbedingt Königsberg, betonte er, hierfür habe es verschiedene Gründe gegeben. Unter anderem sei es für die Engländer wichtig, daß Königsberg eben ein Teil Europas sei. Ebenso spielten die Qualität des Bodens und die hervorragende verkehrstechnische Lage bei den Überlegungen der Briten eine Rolle. Aber man habe auch, so Brandley, eine gewisse Affinität zur deutschen Geschichte Nord-Ostdeutschlands, daher habe man in Manchester, dem Firmensitz, schon entschieden, daß man auf jeden Fall als Verwaltungssitz ein deutsches Haus in Rauschen kaufen wolle, unabhängig davon, daß die dortigen Immobilienpreise die höchsten im ganzen Königsberger Gebiet sind.

Brandley wollte in seinem Gespräch mit den Bürgern von Kraam auch keine falschen Hoffnungen schüren. Den Anwesenden wurde mitgeteilt, daß man im ersten Jahr sicherlich keine örtlichen Arbeitskräfte einstellen werde und erst ab dem zweiten Jahr Schritt für Schritt auf hiesige Arbeitskräfte zurückgreifen werde, die entsprechend von englischen Fachkräften angelernt werden sollen. So beabsichtigt man auch, unter anderem wegen der riesigen Brachflächen, im ersten Jahr nur 1000 Hektar zu bearbeiten und diese ausschließlich mit Raps zu besäen. Erst in den drei folgenden Jahren solle Korn angebaut werden, welches dann aber zu 100 Prozent auf den russischen Markt gebracht werden solle. Mit der Viehhaltung, gedacht ist an etwa 500 Milchkühe, wolle man erst nach dem dritten Jahr der Tätigkeit beginnen. Auch möchte man eine enge Kooperation mit der schon in Betrieb befindlichen Gefrieranlage in Alleinen eingehen, um dort die hier angebauten Kartoffeln und andere Gemüse zu verarbeiten.

Brandleys Firma betreibt bisher Großfarmen in England, Australien, Ungarn, Polen und Rumänien. Sollten die Kraamer Bürger sich bis Mitte April positiv entscheiden, so werden schon Ende April alle Verträge unterschrieben, damit die Engländer mit der Bearbeitung des ostdeutschen Bodens schon im Juni beginnen können. Die Chancen für die Briten stehen relativ gut, diesen Eindruck konnten wir nach der Bürgerversammlung gewinnen. Auch wenn viele Kleinlandwirte in der Versammlung versuchten, vor allem über den Pachtpreis zu verhandeln, scheint man doch einhellig der Meinung zu sein, daß es für das Dorf das Beste sei, auf das Angebot der Engländer einzugehen. Viele Bürger in Kraam schienen nach dem Treffen der Einwohner mit dem Vertreter der britischen Firma im Engagement der Engländer, die nach eigenen Angaben auch ein hohes wirtschaftliches und politisches Risiko eingingen, eine große Chance für ihren Ort zu sehen.

Große Hoffnung machen sich die Menschen vor allem, weil sie sich zumindest für die nächsten Jahre viele neue Arbeitsplätze erhoffen, die sie und ihren Ort ein wenig aus der heute trostlosen Lage führen sollen. BI

 
     
     
 
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