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Christa Wolf, geboren 1929 in Landsberg an der Warthe, hat ihre Kindheit östlich der Oder und ihr Fluchterlebnis 1945 oft und in unterschiedlichster Weise in ihrem Werk verarbeitet. Jörg Magenau meint in seiner Christa-Wolf-Biographie, der ersten überhaupt, sogar, sie habe sich "über keinen Lebensabschnitt (...) ausführlicher geäußert als über diesen, fernstliegenden, wenn auch unter der schützenden Maske der Fiktion und versehen mit mahnenden Vorbemer-kung(en)".
Vielleicht kann man die plötzliche, gewaltsame Vertreibung aus der Kindheitslandschaft sogar als ihren wichtigsten, zentralen Schreibimpuls ansehen, gemäß der "Ästhetik des Schreckens" von Karl-Heinz Bohrer, wonach ein schockartiges Erlebnis eine andere, neue Art des Sehens evoziert. Jedenfalls lesen sich Passagen ihrer 1970 entstandenen, wenig bekannten Erzählung "Blickwechsel" wie eine Vorlage für Bohrers Theorie:
"Es war jener kalte Januarmorgen, als ich in aller Hast auf einem Leiterwagen meine Stadt in Richtung Küstrin verließ und als ich mich sehr wundern mußte, wie grau diese Stadt doch war, in der ich immer alles Licht und alle Farbe gefunden hatte, die ich brauchte. Da sagte jemand in mir langsam und deutlich: Das siehst du niemals wieder. Mein Schreck ist nicht zu beschreiben. Gegen dieses Urteil gab es keine Berufung. Alles, was ich tun konnte, war, treu und redlich für mich zu behalten, was ich wußte, Flut und Ebbe von Gerücht en und Hoffnungen anschwellen und wieder sinken zu sehen, vorläufig alles so weiterzumachen, wie ich es den anderen schuldig war, zu sagen, was sie von mir hören wollten. Aber der Fremdling in mir fraß um sich und wuchs, und womöglich würde er an meiner Stelle bald den Gehorsam verweigern. Schon stieß er mich manchmal, daß sie mich von der Seite ansahen: Jetzt lacht sie wieder. Wenn man bloß wüßte, worüber?" Kassandra ante portas!
Magenau ist den Kindheitsspuren von Christa Wolf nachgegangen und hat auch Gespräche mit der Schriftstellerin geführt. Gottfried Benn, der damals als Wehrmachtsoffizier in Landsberg stationiert war, hatte die Stadt wenig schmeichelhaft beurteilt: "Straßen, die Hälfte im Grund, die Hälfte auf Hügeln, ungepflastert; einzelne Häuser, an die kein Weg führt, unerfindlich, wie die Bewohner hineingelangen; Zäune wie in Litauen, moosig, niedrig, naß." Wolfs Erinnerungen an die Stadt sind naturgemäß freundlicher, für die Landsberger lag ihre Stadt auch nicht im Osten, sondern nahe der Mitte Deutschlands.
Der Heimatverlust hatte sich schon seit Monaten durch Flüchtlingstrecks aus den Gebieten weiter östlich angekündigt. Christa Wolf hatte bei der Entladung geholfen und dabei unwissentlich einen toten Säugling entgegengenommen. Sie brach zusammen und lag mehrere Wochen mit einer Nervenkrise im Krankenhaus. Am 29. Januar 1945 verließ sie auf einem Pritschenwagen, mehrere Pullover übereinandergezogen, die Stadt. Sämtliche Habe, auch die Familienfotos, gingen ver- loren. Erst im Juli 1971 kehrte sie wieder nach Landsberg zurück. Die Angaben im Roman "Kindheitsmuster" stimmen mit der Wirklichkeit weitgehend überein.
Im Text "Der Gastfreund", den sie auf einer Veranstaltung im Ok-tober 1991 im Deutschen Theater in Berlin verlas, erinnerte sie an ihre schwere Ankunft in Mecklenburg, an die eigene Armut und das Gefühl der Entwurzelung, aber auch an das Bedürfnis der Einheimischen, auf die Ankömmlinge herabzuschauen. Neben der Flucht war auch der Fluchtpunkt Mecklenburg, eigentlich sollte der Treck weiter nach Westen ziehen, für ihr Leben und Schaffen schick-salhaft. So schlug sie neue Wurzeln in der DDR.
Glücklicherweise ist der Autor Jörg Magenau der Versuchung entgangen, Werk und Lebensweg der Schriftstellerin nur aus der Perspektive ihres ursprünglichen, gründlich widerlegten Lebensideals, der Einheit von privater, künstlerischer und politischer Existenz in einem sozialistischen Staat, zu beurteilen. Er hat Wolfs literarische und publizistische Texte mit der nötigen philologischen Sorgfalt analysiert und sich gründlich in die jeweiligen Zeitumstände vertieft. Die vielen biographischen Details, die Christa Wolf ihm mitgeteilt hat, ergeben einige neue Aufschlüsse über politische Hintergründe und persönliche Intentionen, ohne das Bild, das man von der Autorin schon hatte, gänzlich umzustoßen. Auf jeden Fall befriedigen sie die voyeuristische Neugierde potentieller Leser.
Ihre Eltern waren kleine Gewerbetreibende, der Vater trat 1932 der NSDAP bei. Die elterliche Autorität war nach dem Zweiten Weltkrieg kompromittiert, an ihre Stelle trat die der kommunistischen Nazigegner. Magenau wahrt Distanz gegenüber Wolfs Selbsterklärungen. Sachlich konstatiert er ihre Neigung, unangenehme Charakterzüge - Autoritätshörigkeit zum Beispiel - als Generationsmerkmale zu pauschalisieren, und sich persönlich zu entlasten.
Spätestens seit 1980, als sie den Büchnerpreis erhielt, galt sie als bedeutendste deutschsprachige Gegenwartsautorin und war sogar für den Nobelpreis im Gespräch. Nach 1990 wurde sie hingegen als "Staatsdichterin" ge- schmäht und lieferte den Anlaß für den "Literaturstreit". Zentrum ihrer Poetik ist aber nicht, wie damals behauptet, die Ent-faltung und Verteidigung eines ideologischen Sündenfalls, sondern die Emanzipation von ihm zugunsten subjektiver Freiheit. Diese Entwicklungslinie läßt sich von "Nachdenken über Christa T." über "Kindheitsmuster", "Kein Ort nirgends", "Sommerstück" (diese beiden Bücher sind wohl ihre besten überhaupt), "Kassandra" bis "Medea" verfolgen.
In den fünfziger Jahren begriff Christa Wolf sich als Streiterin in einer revolutionären Weltbewegung, in den sechziger Jahren wollte sie wenigstens die DDR verbessern, um das sozialistische Zukunftspotential in Freiheit zu setzen. In den siebziger und achtziger Jahren beschwor sie die zwischenmenschlichen Strukturen, die sich unterhalb der staatlichen Ebene gebildet hatten, und nach 1989 definierte sie den Sozialismus nur noch als eine persönliche Haltung. Ihr Werk läßt sich als permanenter Schrumpfungsprozeß ihres Utopievorrats lesen, andererseits zehrte sie von ihm. Für die- jenigen aber, die ihre Utopie nie geteilt hatten, für die die DDR von Anfang falsch und eine Qual war, hielt ihr Werk nicht immer Erhellendes bereit, und der Trost, den es spendete, schmeckte bald schal. Daraus erklärt sich die weitverbreitete Aversion gegen den als mo- ralisierend empfundenen "Christa-Wolf-Sound". Die Dis-kussion um Christa Wolf ist mit diesem Buch noch lange nicht zu Ende.
Jörg Magenau: "Christa Wolf - Eine Biographie", Kindler Verlag, Berlin 2002, zahlr. Abb., 449 Seiten, 24,90 Eur |
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