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Essay: Montesquieu oder die Liebe zur Demokratie

 
     
 
Die Krise der CDU dürfe nicht zur Krise der Demokratie werden – mit diesen staatsmännischen Worten trat in der vergangenen Woche Wolfgang Schäuble als Parteichef der Christdemokraten zurück. Dem "badischen Preußen", in den Jahren der Kohl-Ära tief in der bundesrepublikanischen Administration verankert, war natürlich durchaus bewußt, wohin die noch ungewisse Reise in die Zukunft gehen kann. Nach all den Urlaubs- und Flugaffären
der Sozialdemokraten und dem Spendensumpf der Union steht indirekt auch das auf Parteienherrschaft beruhende politische System Nachkriegsdeutschlands auf dem Prüfstand.

SPD und Grüne wissen, daß die Krise der CDU ihnen nicht automatisch die Wähler auf Dauer zutreibt. Wenn die Sozialdemokraten in der nächsten Zeit als Sieger in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen hervorgehen werden, dann nur, weil die CDU aufgrund des Spendenskandals die wahlentscheidende Schicht der Unentschiedenen und Wechselwähler nicht mehr erreicht; nicht aber, weil sie Unionsstimmen für sich verbuchen können. Ohnehin sind die beiden großen Parteien zu sehr bereits nur Spielarten des ewig gleichen Systems und bedingen sich in eingespielter Manier gegenseitig. Daher auch die verhaltenen Stimmen aus dem Lager der SPD zum Unions-Debakel, und fast schon verdächtig fehlen dem objektiven Betrachter Häme und Schadenfreude aus den Reihen der von Kohl einst zuverlässig in die Schranken Gewiesenen.

So hatte auch der sozialdemokratische Bundestagspräsident Thierse bei der öffentlichen Bekanntgabe der CDU-Strafe unmißverständlich erklärt, daß es nicht darum gehe, die Union als Partei zu zerstören – ganz im Gegenteil. Eifrig hatten sich in diesem Sinne Protagonisten des linken CDU-Flügels bereits im Vorfeld als treue Diener der Demokratie und des bundesrepublikanischen Systems in Stellung gebracht. Dahinter steckt die alte Angst, daß sich in Deutschland doch noch eines Tages eine ernstzunehmende, demokratisch legitimierte Partei "rechts" von der Union etablieren könnte. Und diese Angst ist nach Haiders Wahlerfolgen in der Nachbarrepublik Österreich nicht kleiner geworden, eher noch realer. Insofern darf sich die CDU sicher und gebraucht fühlen, ohne den völligen Bankrott fürchten zu müssen. In dieses Bild paßt auch, daß die rot/grüne Bundesregierung bekanntlich den Auslieferungstermin verstreichen ließ, den heimlichen Regisseur der Parteispendenaffäre, Waffenhändler Schreiber, zur Anhörung aus dem fernen Kanada nach Deutschland zu holen – offensichtlich bestand an der Demontage der wichtigsten Oppositionspartei im Bundestag kein Interesse.

Dennoch haben all die schwarzen Konten, heimlichen Finanzschiebereien und Ehrenworte auch dem gesamten System bereits nachhaltige und vermutlich irreparable Schäden zugefügt. So geht auch die Bundesregierung nicht gestärkt aus der Schwächung der CDU hervor. Dafür jedoch erklärt die Mehrheit der Bundesbürger laut Umfragen, daß die Spendenaffäre der Union zugleich ihr Vertrauen in die gesamte Demokratie beeinflußt. Von keiner der im Bundestag vertretenen demokratischen Parteien glaubt die Mehrheit der Wahlberechtigten, sie hätte an Stelle der CDU wesentlich anders gehandelt.

Schon längst läßt sich die Krise in der deutschen Parteiendemokratie nicht mehr leugnen. Daß irgendwo in der Bundesrepublik Gelder veruntreut oder unterschlagen worden sind, irritiert im Ernst kaum noch jemanden; daran hat sich ein Großteil der Wähler längst gewöhnt. Daß hohe politische Ämter ausgenutzt werden, um alte Getreue oder gleich die halbe Verwandtschaft zu "versorgen" gilt inzwischen als normal, daß eine Funktion zur eigenen Vorteilnahme verwendet wird, ist Ausdruck von Cleverneß und Risikobereitschaft geworden. Die politische Kultur in Deutschland degeneriert. Lang ist die Ahnengalerie zurückgetretener Ministerpräsidenten: Stobbe in Berlin, Barschel in Schleswig-Holstein, Späth in Baden-Württemberg, Streibel in Bayern, Glogowski in Niedersachsen. Der hessische Amtsinhaber Koch spielte überzeugend die Rolle des Aufklärers und Ausmisters in seinem Landesverband, belog jedoch wenige Tage später die Öffentlichkeit – und blieb auf seinem Posten. Bundespräsident Rau, dem der liebevoll gepflegte Ruf ethisch-religiöser Integrität vorauseilt, hat sich bis zum heutigen Tag noch nicht überzeugend zu den Vergehen seiner nordrhein-westfälischen Regierungszeit geäußert. Besorgt fragen die Medien bereits nach Rechtsverständnis und Gesetzestreue der politischen Elite.

"Werden wir nach Drittem Reich und DDR unseren Kindern nur noch die Ruinen einer Demokratie hinterlassen?", so die bange Frage des ehemaligen SFB-Intendanten Günther von Lojewski. Wie viele konservative Publizisten aus dem CDU-Umfeld macht er in den Zeiten des moralischen Kollaps den französischen Aufklärer Montesquieu mit seiner Lehre von der Gewaltenteilung stark. Denn Montesquieu hatte in seinem Hauptwerk "Vom Geist der Gesetze" 1748 ausgerechnet die Tugend als Merkmal einer Republik beschrieben und die Trennung von Exekutive, Legislative und Jurisdiktion gefordert. Regierung, Parlament und richterliche Gewalt sollen sich, so sein an England orientiertes Modell, permanent gegenseitig kontrollieren. Die Thesen Montesquieus liegen allen modernen Staatsverfassungen zugrunde, auch dem Grundgesetz. Doch die Theorie von den drei getrennten Gewalten funktioniert nicht, wenn der Staatsapparat von Parteien und Interessenverbänden durchdrungen wird. Dann wird die gegenseitige Kontrolle zur Farce und verkommt zum bloßen Laienspiel. Insofern ist der Verweis auf den Franzosen berechtigt, doch er allein kann ein erstarrtes System nicht neu beleben. Der grüne Bundesgeschäftsführer Bütikofer hat aus der Parteienkrise den naheliegenden Schluß gezogen, daß es nun an der Zeit sei, mehr plebiszitäre Elemente einzuführen. In der Tat wären Volksentscheide im konkreten Fall authentischer und aussagekräftiger als Parlamentswahlen, und auch die selbständige Wahl des Bundespräsidenten wäre den Deutschen allmählich zuzutrauen. Derartige Vorstöße wie hier von den Grünen sind auch immer von der Angst getragen, mit den herkömmlichen Mitteln der Politik bald nicht mehr den eigentlichen Arbeitgeber, das Wahlvolk, zu erreichen und somit in absehbarer Zeit in der Bedeutungslosigkeit zu versinken.

Diese Sorge treibt vor allem die Grünen und die PDS um. Denn beide sind im eigentlichen Sinne Protest-Parteien und beziehen ihre Legitimation nicht unwesentlich aus dem wie auch immer formulierten "Dagegen". Hinter der deutschen Parteienkrise lauert bereits das österreichische Beispiel. Jahrzehntelang war der Protest ein unangefochtenes linkes Monopol. Links war daher stets revolutionär und modern, rechts der kleinbürgerliche Stillstand und Status quo. Doch die Wertungen sind längst im Wandel. Selbst die alternative Berliner "Tageszeitung" mußte jüngst einräumen, daß die klassischen linken Themen wie Frauendiskriminierung, Dritte Welt oder Umweltgefahren längst "ironisierfähig" geworden sind und somit erheblich an Attraktivität verloren haben.

Die Form des Protests an sich ist inhaltsleer und somit in jede Richtung hin verwendbar. Die moderne Protestbewegung richtet sich gegen einen vermeintlich übermächtigen Gegner – ein korrumpiertes System oder eine Parteienoligarchie – und proklamiert für sich die Zukunft. Sie hat somit die Eigenschaften und zum Teil auch die klassischen Themen, die von den linken Protestbewegungen der siebziger und achtziger Jahre bekannt sind. Die neuen Protestbewegungen sind notwendig "rechte" Organisationsformen, während die linken Oppositionsformen entweder politisch ausgeschaltet oder – wie die Grünen – Teil des Systems geworden sind, gegen das sie einst kämpften.

Auch die moderne Protestbewegung arbeitet mit der Unterscheidung von Gleichheit und Ungleichheit und setzt auf die politische Potenz moralischer und sozialer Entrüstung. Sie schafft Foren, verbindende Themen sowie identitätsstiftende Symbole. Es liegt auf der Hand, daß die Form des Protests, die immer auch attraktiv und plakativ zugleich ist, nahezu ideal mit dem visuellen Massenmedium Fernsehen harmonisiert. Die simple, konzentrierte Botschaft des Protests ist hier problemlos transportierbar.

In diesem Zusammenhang sind auch die massenmedialen Erfolge Jörg Haiders im deutschen Fernsehen zu verstehen. Wo überforderte Moderatoren sich von "rechtsextremen" Claqueuren umzingelt sahen und den FPÖ-Chef in ihren unbedarften Talksendungen entzaubert glaubten, hatte er längst auch in Deutschland seine Triumphzüge angetreten. Das Grundmuster ist dabei immer ähnlich und vom ORF-Fernsehen bereits bekannt: Haider spielt grundsätzlich die Rolle, deren Gegenteil von ihm erwartet wird. Im Gespräch mit jüdischen Intellektuellen macht er wie kein anderer österreichischer Politiker auf die Schuld des Alpenlandes während des Nationalsozialismus aufmerksam; Linken gegenüber zeigt er sich als Anwalt der sozial Schwachen usw.

Daß die Politik nicht mehr von Ideen, sondern von Personen bestimmt wird, gehört zu den Grunderkenntnissen des 20. Jahrhunderts. Schon Freud wußte, daß das Verhältnis zwischen dem politischen Führer und der Masse nicht frei von Erotik ist. In diesem Sinn sind Haiders gekonnte Selbstinszenierungen zu verstehen, die eine besondere emotionale Spannung zum Publikum erzeugen. Damit schafft er ein Klima, mit dem rein funktional auf die Macht zugeschnittene Parteien nicht konkurrieren können.

In Österreich ist Haider längst zu einem Medium geworden, das an sich bereits den Inhalt transportiert. Allein sein Name ("Einfach Jörg") weckt die erwünschten Assoziationen – positive wie negative. Dabei sind die Inhalte, die die Protestbewegung der Freiheitlichen vertritt, allgemein gültig. Gegen Parteienproporz, Amtsmißbrauch oder unkontrollierte Zuwanderung von Ausländern könnte man in nahezu jedem Staat der Europäischen Union, zumal in Deutschland, erfolgreich Politik machen – daher auch die scharfen, jederzeit durchschaubaren Reaktionen der EU.

Österreich stellt ein Modell dar, dessen Wirkung für die Zukunft noch nicht absehbar ist. Über die Krise der Demokratie und ihrer Parteien in Deutschland wird in nächster Zeit noch viel zu lesen sein, doch die Lösung ist weniger theoretisch als vielfach angenommen. Denn wer die Demokratie retten will, muß sie zunächst einmal praktizieren, daß heißt, den Willen des Volkes vertreten. Dies zu gewährleisten ist der Sinn der Protestbewegungen modernen Typs. Wie sehr sie notwendig sind, zeigt den Grad der Krise an.

 
     
     
 
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